Stille Seele (German Edition)
immer getan, erkannte Jakob erstaunt. Die jugendliche Abneigung war nichts als Eifersucht gewesen. Tief in seinem Inneren hatte er sich so oft gewünscht, nur ein bisschen mehr so zu sein wie sein großer Bruder. Das war noch immer so, aber jetzt machte ihn dieses Gefühl nicht mehr wütend, sondern traurig.
Die Tür schwang auf und Paul rief mit einem Fuß schon auf der V eranda in das Innere des Hauses. „Ich gehe nur eben eine rauchen, Mom. Ich will keinen Kuchen!“ Wie immer, wenn er ihre Mutter direkt ansprach, benutzte er sein fast akzentfreies Deutsch. Etwas leiser und in melodischem Englisch fügte er hinzu. „Wer zum Henker braucht schon Kuchen nach einem Drei-Gänge-Menu, wenn es in ungefähr fünf Minuten wieder Abendbrot gibt. Sie gibt sich wirklich alle Mühe, uns zu mästen!“ Er schüttelte den Kopf, grinste und steckte sich eine Zigarette an. Der Geruch von verbranntem Tabak und dem Rauch des Streichholzes wehte zu Jakob hinüber. Paul zupfte eine der Blumen ab und zerrieb die zartrosa Blüte zwischen seinen Fingern. Die Reste ließ er achtlos auf die Veranda fallen.
Jakob war sich bewusst, dass er sich jeden Augenblick umdrehen würde. Dass er ihn dann entdecken würde. Für eine Flucht war es zu spät, und ein klitzekleiner Teil in ihm begrüßte diesen Umstand, der es ihm verwehrte, feige umzudrehen. Der schwere, süßliche Geruch der Blüte lag zwischen ihnen, als Paul sich umwandte und wie vom Blitz getroffen stehen blieb. Zögernd trat er einen Schritt auf Jakob zu und tippte ihm leicht gegen die Schulter. „Jay?“ Ungläubig tippte er ihn noch einmal an, bevor er mit Tränen in den Augen lächelte. Seine Stimme klang brüchig. „Du bist es echt. Ich dachte schon, Moms Essen hätte mich dazu gebracht, ‘ne Fatamorgana zu sehen!“
Jakob verzog das Gesicht zu einem schiefen Grinsen und nickte unbeholfen. „Ja, ich bin es!“ Er hätte gehen können, er hätte viel sagen können, aber stattdessen blieb er sitzen, wo er war und starrte seinen Bruder stumm an – unfähig, einen klaren Gedanken zu formulieren.
„Ist alles in Ordnung bei dir?“ Pauls Augen leuchteten. Schnell ha tte er sich wieder gefangen und eine elektrisierende Vitalität ging mit einem Mal von ihm aus. Paul schien ganz aus dem Häuschen zu sein, Jakob nach über zwei Jahren endlich wieder zu sehen. „Was machst du hier?“
Seine Art nahm Jakob etwas von seiner Unsicherheit. Er räusperte sich und seine Stimme klang zu seinem eigenen Erstaunen fest und kräftig. Fast beiläufig erwiderte er: „Ich habe ein wenig Urlaub. Ich wusste nicht wohin, also dachte ich, ich komme nach Hause!“ Eigen tlich entsprach das nicht ganz der Wahrheit. Genau genommen war er krankgeschrieben, aber es war wohl wenig klug, gleich am Beginn auszuposaunen, dass er fast draufgegangen wäre.
„Natürlich kommst du nach Hause!“ Er lachte ehrlich und tief. „Was soll das eigentlich heißen, du wusstest nicht wohin sonst!“
„Na ja …“ Jakob rutschte unbehaglich auf der harten Holzstufe herum. „Zwischen mir und Dad war es nicht einfach zuletzt. Ich war mir nicht sicher, ob er mich überhaupt sehen will!“
„Du spinnst doch! Er nimmt dir noch immer übel, dass du das Ding da durchgezogen hast!“ Lächelnd deutete Paul auf Jakobs Uniform. „Aber das ist doch längst ein alter Hut! Er liebt dich, und du weißt genau, dass er uns nie lange böse sein kann.“ Paul setzte sich nah zu ihm, schüttelte energisch den Kopf und legte ihm vertraulich die Hand auf den Oberschenkel. „Natürlich wollen wir alle dich sehen! Wir haben uns schon Sorgen gemacht. Du hast auf die letzten Emails nicht geantwortet. Moms Nerven sind deshalb schon ziemlich angekratzt. Was war los?“ Er warf Jakob einen neugierigen Blick zu, dem Jakob j edoch auswich.
Unsicher schabte er mit seiner Hacke einen imaginären Fleck von seinem Schuh und zuckte mit den Schultern. „Bin irgendwie nicht dazu gekommen. Wir sind ‘ne Menge Jungs und jeder will mal an die wenigen Rechner!“
Seine Ausrede klang selbst in seinen eigenen Ohren lahm, und obwohl sie Paul nur ein skeptisches Grinsen entlockte, fragte er nicht weiter nach.
Stattdessen erwiderte er fröhlich: „Sie werden völlig aus dem Häu schen sein.“ Ohne zu zögern, packte er Jakobs Taschen und stand auf. „Was ist jetzt, kommst du oder willst du hier draußen Wurzeln schlagen?“
Mühsam rappelte Jakob sich hoch und kam unmittelbar vor Paul zum Stehen.
„Hast dich echt gemacht, kleiner
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