Stille Seele (German Edition)
stationieren, und du weißt, was das heißt – wenn es schlecht läuft, Frontdienst bis zu einem Jahr. Ein Jahr, das keiner von uns überstehen würde. Ganz davon abgesehen, dass nur fünfzig Prozent einen positiven Bescheid bekommen!“ Obwohl Jakob bereits sah, wie Connor gequält die Augen zusammenkniff, fuhr er fort. „Alle werden wissen, dass wir die Sache verraten, unser Amerika. Vor allem unsere direkten Kollegen und Freunde. Sie alle werden uns als Verräter sehen!“ Mit rauer Stimme fuhr er fort. „Wenn wir mal ehrlich sind, ist es das, was wir sind, und trotzdem werde ich mich dem nicht stellen!“ Dabei hatte er trotzig in Connors Richtung geschaut und erleichtert die Luft ausgestoßen, als dieser als Zustimmung leicht mit dem Kopf nickte.
Während Jakob den Weg zu seinem Elternhaus einschlug, erinnerte er sich in aller Deutlichkeit an den inoffiziellen Schwur, den sie alle geleistet hatten und dem er sich trotz ihrer Entscheidung noch immer verpflichtet fühlte.
Ich bin ein amerikanischer Soldat. Ich bin ein Krieger und Mitglied einer Einheit. Ich diene dem Volk der Vereinigten Staaten und lebe die Werte der Armee. Ich werde dem Auftrag immer oberste Priorität einräumen. Ich werde niemals eine Niederlage akzeptieren. Ich werde niemals aufgeben. Ich werde nie einen gefallenen Kameraden zurüc klassen. Ich bin ein Wächter der Freiheit und der amerikanischen Lebensart. Ich bin ein amerikanischer Soldat.
Jakob schüttelte sich unwillkürlich und spürte, wie sich die feinen Härchen auf seinen Armen aufstellten. Er hatte das Gefühl, als wäre die Luft mit einem Mal sandgeschwängert, und er keuchte unterdrückt auf. Ja, er verriet sie alle und vor allem sich selbst, aber er würde nicht zurückgehen, nie mehr. Dieser Entschluss war unumstößlich. Er war in den langen Monaten an der Front gereift, als seine innere Stimme immer lauter und die Überzeugungen schwächer geworden waren, und in den Stunden, als er und Connor fast draufgegangen wären, hatte sich dieser Entschluss gefestigt. Vielleicht war er tatsächlich feige, bestimmt sogar, aber er würde, im Gegensatz zu vielen anderen Freunden, Fremden und Kameraden, leben.
Er brauchte etwas mehr als fünfzehn Minuten, um vom Bahnhof zu der in einem hübschen Wohngebiet liegenden Straße seines Elternha uses zu gelangen. Jakobs Schritte verlangsamten sich. Obwohl er all die Monate von diesem Tag geträumt hatte, war das vorherrschende Gefühl in diesem Moment, einfach weglaufen zu wollen. Es forderte all seine Konzentration, einen Fuß vor den anderen zu setzen und die noch bestehende Distanz zu der Auffahrt seiner Eltern zurückzulegen. Pauls silberner Ford stand in der Auffahrt. Er war also zu Besuch zuhause, wie jeden Sonntag. Daneben standen der Pickup seines Vaters und der kleine Toyota seiner Mutter. Von Sarahs Wagen war keine Spur zu sehen. Entweder sie war nicht gekommen oder Paul hatte sie aus der Stadt mitgenommen. Jakob blinzelte in die langsam untergehende Sonne, die das Dach seines Elternhauses in ein sanftes Licht tauchte. Dieser Ort wirkte so friedlich, als gäbe es den Schrecken des Krieges nicht. So als wären all diese Eindrücke allein seiner Phantasie entsprungen. Jakob seufzte und setzte sich auf die unterste Stufe der hölzernen Veranda. Er war noch nicht bereit zu klingeln und wenn er ehrlich war, war er sich nicht sicher, ob er es überhaupt tun würde. Er war sich mit einem Mal ziemlich sicher, dass die Vorstellung seiner Heimkehr wesentlich schöner war, als es die Realität jemals sein würde. Fast konnte er die eigene Enttäuschung, die auf die Reaktion seiner Eltern folgen würde, spüren.
Er hatte sie immer enttäuscht. Das war keine bockige Erkenntnis, von der er in Wirklichkeit gar nicht überzeugt war, sondern eine Ta tsache. Er hatte sie enttäuscht, genau wie sich selbst. Er hatte es gewusst und trotzdem oder gerade deshalb weiter gemacht. Jakob hielt sich selbst nicht für einen bösen Menschen, aber er war dumm genug gewesen, sein damaliges Leben nicht wertzuschätzen und die einzigen Menschen von sich zu stoßen, die etwas Gutes für ihn wollten. Er hörte Schritte über den Flur näher kommen. Pauls Stimme erklang hinter der Tür und Jakob fühlte, wie ihn ein Gefühl von Liebe durchdrang. Er liebte seine Geschwister, auch wenn er sich häufig das Gegenteil eingeredet hatte. Er bewunderte Paul für seine selbstverständliche Art, erfolgreich und offen durch sein Leben zu gehen – das hatte er schon
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