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Stille Tage in Clichy

Titel: Stille Tage in Clichy Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henry Miller
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sprechen. Sie mußte ihr Englisch in Costa Rica aufgegabelt haben, wo sie, wie sie behauptete, einen Nachtclub geleitet hatte. Es war das erste Mal in all den Jahren, in denen ich in Paris gewesen war, daß eine Hure den Wunsch hatte, Englisch zu sprechen. Offenbar deshalb, weil sie das an die guten Tage von Costa Rica erinnerte, wo sie etwas Besseres als eine Hure gewesen war. Und dann gab es noch einen anderen Grund: Mr. Winchell. Dieser Mr. Winchell war ein charmanter, freigebiger Amerikaner, ein Gentleman , wie sie sagte, den sie zufällig in Paris kennengelernt hatte, als sie von Costa Rica mit leeren Taschen und gebrochenem Herzen zurückgekehrt war. Mr. Winchell gehörte einem Sportclub in New York an, und obwohl er seine Frau im Schlepptau hatte, war er zu ihr hochanständig gewesen. Als echter Gentleman hatte Mr. Winchell Mara seiner Frau vorgestellt, und die drei hatten zusammen einen Abstecher nach Deauviüe unternommen. So erzählte sie jedenfalls. Daran mag etwas Wahres gewesen sein, denn es schwirrten tatsächlich Männer wie Winchell in der Welt herum, die sich dann und wann eine Hure aufgreifen und sie in ihrer Euphorie wie eine Dame behandeln. Und manchmal ist dann die kleine Hure auch wirklich eine Dame. Aber dieser Winchell war, wie Mara sagte, ein wirklicher Herr - und seine Frau war auch nicht übel. Sie reagierte allerdings sauer, als Mr. Winchell vorschlug, zu dritt ins Bett zu gehen. Mara konnte ihr das nicht verdenken. «Elle avait raison» , meinte sie.
    Aber wie dem auch sei, Mr. Winchell war fort, und der Scheck, den er Mara vor seiner Abreise nach Amerika überreicht hatte, war längst verzehrt. Es war schnell damit gegangen, denn kaum war Mr. Winchell verschwunden, da tauchte Ramon auf. Ramon hatte in Madrid ein Cabaret aufziehen wollen, aber dann war die Revolution ausgebrochen und er hatte fliehen müssen, und als er in Paris ankam, war er völlig abgebrannt. Ramon war auch ein netter Kerl, erklärte Mara. Sie traute ihm vollkommen. Aber nun war er fort. "Wohin er eigentlich verschwunden war, wußte sie nicht genau. Trotzdem war sie überzeugt davon, daß er eines Tages nach ihr schicken würde. Sie war todsicher, obwohl sie seit über einem Jahr nichts mehr von ihm gehört hatte.
    Das alles, während der Kaffee serviert wurde, in diesem komischen Englisch, das mich wegen ihrer tiefen, rauhen Stimme, ihres pathetischen Ernstes, ihres offensichtlichen Bemühens, mir zu gefallen - denn vielleicht war ich ein zweiter Mr. Winchell? -, tief rührte. Eine Pause, eine ziemlich lange Pause trat ein, in der ich plötzlich an Carls Worte beim Abendessen denken mußte. Sie war wirklich ‹mein Typ›, und obwohl er diesmal keine derartige Prophezeiung aufgestellt hatte, entsprach sie doch genau jenem Wesen, das er mir mit der Eingebung des Augenblicks hätte beschreiben können, während er dramatisch die Uhr herauszog und sagte: «... in zehn Minuten wird sie an der und der Straßenecke stehen.»
    «Was tust du hier in Paris?» fragte sie, um etwas vertrauter mit mir zu werden. Und als ich eben antworten wollte, fiel sie mir ins Wort und fragte, ob ich Hunger hätte. Ich erklärte ihr, ich hätte gerade wunderbar gegessen, und schlug vor, noch einen Likör und einen Kaffee zu bestellen. Da bemerkte ich plötzlich, daß sie mich mit ihrem Blick geradezu durchbohrte, es war fast unbehaglich. Ich hatte den Eindruck, daß sie wieder an Mr. Winchell dachte, mich vielleicht mit ihm verglich oder gar identifizierte, vielleicht Gott dankend, daß er ihr einen weiteren amerikanischen Gentleman beschert hatte und nicht einen kaltblütigen Franzosen. Ich fand es unfair, sie länger solche Gedanken hegen zu lassen, wenn das wirklich ihre Gedanken waren. Ich teilte ihr also so schonend wie möglich mit, daß ich keineswegs ein Millionär sei.
    In diesem Augenblick beugte sie sich plötzlich zu mir herüber und gestand mir, daß sie Hunger habe, großen Hunger. Darüber war ich erstaunt. Denn die Essenszeit war längst vorbei, und so töricht das auch sein mochte, aber ich wäre nie auf den Gedanken gekommen, daß eine Champs-Élysées-Hure Hunger leiden könnte. Ich schämte mich ein wenig, so gedankenlos gewesen zu sein, sie nicht zu fragen, ob sie schon gegessen habe. «Gehen wir doch hinein», schlug ich vor, in der Annahme, es würde ihr ein besonderes Vergnügen sein, im Marignan zu essen. Jede andere Frau hätte meinen Vorschlag sofort akzeptiert, besonders wenn sie so großen Hunger gehabt hätte.

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