Stille über dem Schnee
haben.«
Die Frage ist mir sofort peinlich. Wahrscheinlich haben sie den
ganzen Abend Sex gehabt.
»Er kam meistens spät vom Training nach Hause. Dann haben wir
gegessen. Manchmal haben wir eine Weile Musik gehört. Dann hat er gelernt, und
ich habe vielleicht ferngesehen oder gelesen. Hin und wieder habe ich auch
gestrickt.«
»Sie stricken?« frage ich überrascht.
Sie nickt.
»Ich stricke ständig«, berichte ich, kaum fähig, meine Aufregung zu
zügeln. »Die Mütze, die Sie heute aufgehabt haben. Die mit den weiÃen und
violetten Streifen. Die habe ich vor einem Jahr gestrickt.«
»Gut«, sagt sie.
»Ich kenne sonst niemanden, der strickt. AuÃer alten Frauen. Marion
unten im Laden â die strickt.«
»Wer hat es dir beigebracht?«
»Meine Mutter.«
»Mir hatâs meine GroÃmutter beigebracht«, erzählt Charlotte. »Sie
hat mir das Stricken, das Malen und das Nähen beigebracht. Sie hat darauf
bestanden, daà ich nur französisch mit ihr spreche.«
»Und Ihre Mutter?« frage ich.
»Meine Mutter hat immer in der Fabrik gearbeitet.« Charlotte stellt
das schmutzige Geschirr in den Spülstein. Sie wischt die Tabletts ab und
stapelt sie auf dem Kühlschrank. »Im Sommer haben James und ich oft hinten im
Hof gesessen. Der Hauswirt hat mir erlaubt, einen kleinen Garten anzulegen. Ich
hatte ein biÃchen Gemüse, aber hauptsächlich Blumen.«
Mein Vater hat den Gasherd auf niedrigste Stufe gestellt, das
reicht, um die Küche warm zu halten, aber es gibt hier nicht einen einzigen
Stuhl. Als ich wieder ins Wohnzimmer hinübergehe, kommt mein Vater mit einer
Ladung Holz herein. Er legt sie ohne ein Wort am Kamin ab und geht wieder
hinaus. Nach einer Weile gesellt sich Charlotte zu mir.
»Im wievielten Jahr sind Sie im Studium?« frage ich.
»Im zweiten«, antwortet sie.
»Und Sie gehen nicht zurück ans College?«
»Nein«, sagt sie. »Jedenfalls nicht an dieses.«
»Weil er dort sein könnte?«
»Er spielt Hockey. Er hat ein Stipendium, weil sie ihn haben
wollten.« Sie hält inne. »Er möchte Medizin studieren.«
»Wow!«
»Deswegen konnte ich auch niemandem etwas sagen«, erklärt sie.
»Hat denn niemand was gemerkt?«
»Ich habe immer groÃe Sweatshirts und Jogginghosen angezogen«, sagt
sie. »Ich war in einem Seminar eingeschrieben, da bin ich nicht mehr
hingegangen. Sonst hatte ich nur Vorlesungen in groÃen Sälen. Am Ende bin ich
da auch nicht mehr hingegangen.«
»Aber haben nicht Ihre Freundinnen oder Ihre Mitbewohnerin was
gesagt?«
»Ich war praktisch die ganze Zeit bei James. Meine Mitbewohnerin
habe ich kaum gesehen. Vielleicht dachte sie, ich würde ein biÃchen dick, keine
Ahnung. Ich habe rundherum zugenommen. Du wirst es wahrscheinlich nicht
glauben, wenn du mich jetzt siehst, aber ich bin eigentlich richtig dünn.«
Ich kann es mir nicht vorstellen. Charlotte scheint vollkommen, so
wie sie ist.
»Wahrscheinlich hätten es die anderen allmählich doch bemerkt«,
fährt sie fort, »aber das Kind ist zu früh gekommen. Ungefähr einen Monat vor
der Zeit.«
»Sie wissen es nicht mit Sicherheit?«
»Nein.«
»Und Ihre Familie wuÃte nichts von dem Baby?«
»Meine Eltern hätten mich umgebracht. Sie sind streng katholisch.
Und meine Brüder â ich weià nicht, was meine Brüder getan hätten.« Sie
schüttelt einmal hastig den Kopf. »Ich weiÃ, das ist nicht so leicht zu
verstehen«, sagt sie und sieht mir dabei direkt in die Augen. »Aber ich habe
mich vollkommen hingegeben. James, meine ich.«
»Oh.«
»Und noch etwas, Nicky.«
»Ja?«
»Ich wollte dieses Kind haben. Wirklich, ich wollte es haben.«
»Wie fühlt man sich da eigentlich?« frage ich.
Sie neigt den Kopf ein wenig zur Seite und mustert mich. »Du hast
niemanden, mit dem du über solche Dinge sprechen kannst, hm?«
»Nein.«
»Deinen Vater kannst du nicht fragen?«
»Nein.«
»Eine Freundin vielleicht?«
Ich denke an Jo, die Wikingergöttin. »Ich glaube nicht, daà sie mehr
weià als ich«, sage ich.
Charlotte zieht die Knie bis zur Brust hoch und umschlieÃt sie mit
beiden Armen. Aber offenbar bereitet ihr diese Stellung Schmerzen, denn sie
legt die Beine augenblicklich um. »Es ist ganz anders als
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