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Stille über dem Schnee

Stille über dem Schnee

Titel: Stille über dem Schnee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
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alles, was man sich
vorstellt«, sagt sie.
    Die Welt rund um unser Haus ist still – kein Brummen von Motoren,
kein Keuchen des Heizbrenners, nur das Prasseln des Feuers im Kamin. Ab und zu
höre ich das Kratzen einer Schaufel im Schnee.
    Â»Man weiß, daß etwas … ich will nicht sagen nicht in Ordnung
ist, aber anders«, erklärt sie. »Man merkt es sofort. Das Essen schmeckt nicht
mehr wie sonst.« Sie berührt ihren Hals. »Genau hier hat man so einen
metallischen Geschmack. Sachen, die man immer gern gegessen hat, riechen auf
einmal ekelhaft. Und die Brüste tun einem weh. Sie schwellen an und werden sehr
empfindlich. Und dann fällt einem auf, daß man seine Periode nicht bekommen
hat. Also habe ich mir einen Test besorgt. Im Drugstore, du weißt schon. Und da
war er auch schon! Groß und breit. Der rosarote Klacks.«
    Ich bin ziemlich sicher, daß ich weiß, was das mit dem rosaroten
Klacks bedeutet.
    Â»Ich habe dann noch zwei Wochen abgewartet, bevor ich mit James
gesprochen habe. Da ging es mir schon gar nicht mehr gut. Mir war fast ständig
schlecht, nicht nur morgens. Man hat irgendwie Kopfschmerzen und einen
komischen Magen.«
    Â»Und da haben Sie es ihm gesagt?« frage ich.
    Â»Ja.«
    Â»Und was hat er gesagt?«
    Â»Erst war er furchtbar erschrocken und fragte immer wieder, wie das
passieren konnte. Wir waren immer ziemlich vorsichtig.« Sie wirft mir einen
Blick zu, um zu sehen, ob ich weiß, was »vorsichtig sein« heißt.
    Ich nicke, obwohl mir die Einzelheiten nicht so ganz klar sind.
    Â»Er ist hin und her gelaufen«, berichtet sie. »Manchmal hat er
gesagt: ›Was sollen wir jetzt tun?‹, und dann hat er mich gefragt, wie es mir
geht. Glücklich war er jedenfalls nicht. Ich glaube, er hat sein ganzes Leben
den Bach runtergehen sehen.«
    Mein Haß auf James wird noch stärker, als er schon war. »Und Ihr
Leben?« frage ich. »War ihm das überhaupt wichtig?«
    Â»Ja, es war ihm wichtig«, antwortet sie. »Natürlich war es ihm
wichtig. Er hat nicht verlangt, daß ich das Kind abtreibe. Er ist auch
katholisch, und er wußte wahrscheinlich, daß er so etwas von mir nicht
verlangen konnte. Aber er hat schon davon gesprochen, das Kind nach der Geburt
wegzugeben. Er hat immer nur gesagt: ›Wir lassen das auf uns zukommen und
nehmen es Schritt für Schritt.‹«
    Sie hält einen Moment inne und krümmt den Rücken. Ich habe den
Eindruck, daß er ihr weh tut.
    Â»Die Übelkeit vergeht, und dann fühlt man sich … man fühlt sich
einfach wunderbar, ich kann es nicht erklären. Man spürt, wie das Kind sich
bewegt«, sagt sie. »Es ist wie ein inneres Kitzeln, als hätte man Sprudelwasser
im Bauch. Aber anders. Alles ist anders. Man kann es mit nichts vergleichen,
was man vorher empfunden hat. Und man fühlt sich … voll. Einfach voll.«
Sie lächelt. »Obwohl man ständig Hunger hat. Den stärksten Heißhunger hatte ich
auf Doughnuts. Unglasiert, aber heiß und außen richtig knusprig. Ich habe sie
immer zu Milch gegessen.«
    Charlotte streckt die Beine aus und lehnt sich, auf die Ellbogen
gestützt, zurück. Sie gähnt. »Für dich wird es ganz anders werden«, sagt sie,
mich ansehend. »Es wird herrlich und vollkommen sein, und es wird kein
schlimmes Ende haben. Da bin ich sicher.«
    Sie gähnt wieder. »Danke, daß du mich da hinaufgeführt hast«, sagt
sie. »Es tut mir leid, daß du dir deswegen Ärger mit deinem Vater eingehandelt
hast.«
    Â»Ist nicht so schlimm«, sage ich. »Er wird drüber wegkommen.«
    Ich sitze seitlich vom Feuer und stochere von Zeit zu Zeit mit dem
Schürhaken darin herum, um die Flammen anzufachen. Ich lege noch ein Scheit
auf. Mir fällt ein, daß ich die Halskette meiner Großmutter noch fertig machen
muß.
    Ich greife nach der Taschenlampe und stehe auf. »Ich muß schnell mal
rauf in mein Zimmer«, sage ich zu Charlotte, »und meine Perlen holen.«
    Charlotte gähnt noch einmal. »Das Feuer macht mich schläfrig.«
    Ich würde den Weg ohne Taschenlampe finden, aber ich mache sie
trotzdem an. Mit dem Schuhkarton mit den Perlen und den Rohlederschnüren kehre
ich ins Wohnzimmer zurück. Ich stelle die Schachtel nahe beim Feuer ab, damit
ich in seinem Licht die Farben der Perlen unterscheiden kann, und suche

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