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Stille über dem Schnee

Stille über dem Schnee

Titel: Stille über dem Schnee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
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leuchtet im Licht
auf. »So, jetzt kommt der schwierige Teil«, sage ich.
    Das Telefon läutet. Wieder scheint das Geräusch fremd im heimeligen
Feuerschein, als gehörte es in ein anderes Jahrhundert. Ich schaue zur Küche
hinüber. »Das wird noch mal Jo sein«, sage ich und stehe auf. »Ich bin gleich
wieder da.«
    Ich gehe in die Küche und hebe ab. »Hallo«, sage ich.
    Â»Nicky?«
    Sofort drehe ich mich so, daß ich mit dem Rücken zum Wohnzimmer
stehe.
    Â»Hier ist Detective Warren. Ist dein Vater da?«
    Ich höre von draußen das rhythmische Kratzen der Schippe. Hastig
hole ich Atem.
    Â»Nein«, sage ich. »Er ist unter der Dusche.«
    Ich nehme wahr, daß hinter mir Charlotte an die Tür getreten ist.
    Â»Sag ihm doch, er möchte mich anrufen, wenn er fertig ist, okay?«
bittet mich Warren.
    Â»In Ordnung.«
    Â»Warte, ich gebe dir meine Nummer.«
    Detective Warren nennt mir eine Telefonnummer, die ich nicht
aufschreibe.
    Â»Ist bei euch auch der Strom ausgefallen?« fragt er.
    Â»Ja.«
    Â»Hier auch. Haltet euch schön warm.«
    Â»Machen wir«, sage ich.
    Ich lege auf und drehe mich nach Charlotte um.
    Â»O Gott«, sage ich.
    Â»Was ist denn?« fragt Charlotte.
    Â»Das war der Kriminalbeamte.«
    Charlottes Gesicht ist ausdruckslos. »Was wollte er?«
    Â»Meinen Vater sprechen.« Mir bleibt fast die Luft weg angesichts
meiner dreisten Lüge. »Ich habe gesagt, er wäre unter der Dusche.«
    Â»Ich fahre gleich morgen früh«, sagt Charlotte. »So kann das nicht
weitergehen.«
    Ich muß daran denken, wie mein Vater zur Polizeidienststelle hinter
dem Postamt gefahren ist, weil er Chief Boyd sprechen wollte. Wäre Chief Boyd
dagewesen, säße Charlotte jetzt im Gefängnis.
    Charlotte macht kehrt und geht wieder ins Wohnzimmer. Ich folge ihr.
Sie bleibt einen Moment am Feuer stehen. »Vielleicht sollte ich schlafen
gehen«, sagt sie.
    Ich bin überhaupt nicht müde.
    Sie sieht sich im Zimmer um. »Wir schlafen hier?«
    Ich rolle die beiden Schlafsäcke aus und lege ihren direkt ans
Feuer, wo es am wärmsten ist. Dabei geht mir noch einmal alles durch den Kopf,
was Charlotte erzählt hat. Wie kann ein Mann, der eine Frau wirklich liebt, von
ihr erwarten, daß sie ihr neugeborenes Kind aufgibt? Ein Baby wegzugeben – erst
recht, es dem Tod zu überlassen –, das ist etwas, was ich mir nicht vorstellen
kann. Es ist unbegreiflich. Würde so etwas einen nicht sein Leben lang
verfolgen, geradeso wie Claras Verlust mich immer verfolgen wird, selbst wenn
ich nicht jede Sekunde daran denke? Darum mußte ich ja die Vorstellung
erschaffen, daß Clara immer weiter wächst, weiterhin am Leben ist. Dorthin
sende ich meine Gedanken, wann immer ich an sie denke.
    Charlotte schiebt sich in ihren Schlafsack und richtet das
Kopfkissen. Ich bleibe neben dem Feuer sitzen, stochere wie zuvor von Zeit zu
Zeit hinein, um die Flammen auflodern zu lassen. Ich lege noch ein Scheit auf.
Ich bin immer noch nicht müde.
    Charlotte schläft sofort ein. Sie beginnt leise zu schnarchen.
    Ich arbeit an Charlottes Perlenschnur, bis ich sie fertig habe. Ich
lege sie in den Karton. Morgen früh werde ich darauf bestehen, daß sie die
Kette umlegt. Ich krieche in meinen Schlafsack und starre zur Zimmerdecke
hinauf. Ich denke über Schwangerschaft und den rosaroten Klacks nach. Über den
metallischen Geschmack hinten am Gaumen. Ich schaue zu Charlotte hinüber und
mache mir von neuem klar, daß sie die Mutter eines Kindes ist, das dem Tod
überlassen wurde. Sie schläft in unserem Haus, gleich neben mir. Vielleicht
wird sie gefaßt und kommt ins Gefängnis. Vielleicht kommen mein Vater und ich
auch ins Gefängnis.
    Ich drehe mich auf die Seite und schaue ins Feuer. Kann sein, daß
ich noch stundenlang wach liege, denke ich. Kann sein, daß ich noch einmal nach
oben gehen muß, um mein Buch zu holen und es im Licht der Taschenlampe zu
lesen.
    Aber nach einiger Zeit sehe ich eine andere Zukunft – eine Zukunft,
in der Charlotte nicht gefaßt wird; in der sie ihr Kind zurückbekommt; in der
sie und ihr Kind mit meinem Vater und mir zusammenleben.
    Ich sehe diese Zukunft in allen Einzelheiten. Ein weißes Kinderbett
im Gästezimmer; im Wohnzimmer ein alter Babystuhl mit rotem Ledersitz, den ich
einmal bei Sweetser gesehen habe. Ein blauer Kinderwagen im

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