Stille über dem Schnee
Charlotte.
Ich stelle mir Charlotte vor, den Kopf an den Schrank gelehnt, die
Augen vielleicht geschlossen.
»Sie können morgen fahren«, sagt mein Vater nach einer Weile. »Der
Pflug müÃte nachmittags kommen.«
Es bleibt lange still in der Küche.
»Wir haben nie geplant, das Baby auszusetzen«, sagt Charlotte. »Ich
möchte, daà Sie das wissen.«
Mein Vater sagt nichts.
»James hat immer nur gesagt: âºWir nehmen das Schritt für Schritt.â¹
Das hat er jedesmal gesagt, wenn ich von der Zukunft gesprochen habe. Ich
dachte, wenn der Moment käme, würde er schon wissen, was zu tun sei. Er hatte
ein Semester lang im Krankenhaus gearbeitet und wollte Medizin studieren.«
Ich höre Eiswürfel klirren. Ich atme so flach, daà ich nach Luft
schnappen muÃ.
»Sie glaubten wohl, ihn zu lieben«, sagt mein Vater.
»Ich habe ihn geliebt«, entgegnet sie.
»Wie alt sind Sie?« fragt mein Vater.
»Neunzehn.«
»Alt genug, um selbständig zu denken. Sind Sie nie auf den Gedanken
gekommen, es könnte für Ihr Kind lebensgefährlich sein, mit niemandem über Ihre
Schwangerschaft zu sprechen?«
»Sie meinen, mit einem Arzt«, sagt Charlotte.
»Richtig, mit einem Arzt.«
»Ich habe es mir überlegt«, sagt Charlotte. »Ich bin in die
Bibliothek gegangen und habe eine Menge über Schwangerschaft und Geburt
gelesen. Den ganzen Frühsommer ging es mir nicht gut. Mir war jeden Tag übel,
meistens den ganzen Tag. Ich hatte Angst deswegen. Aber andererseits hatte ich
Angst, daà meine Eltern oder das College von der Schwangerschaft erfahren
würden, wenn ich zum Arzt ginge.«
»Es gibt Kliniken«, entgegnet mein Vater.
Es ist kalt im Flur, und ich habe keinen Schlafsack. Ich kauere mich
ganz klein zusammen.
»Ich habe damals als Aushilfe bei einer Versicherungsagentur
gearbeitet«, sagt Charlotte. »Ich wurde von einer Abteilung in die andere
versetzt, je nachdem, wo jemand wegen Urlaub oder Krankheit ausfiel. Da lebte
ich schon mit James zusammen. Meine Eltern dachten, ich teilte mir eine Wohnung
mit einem anderen Mädchen. Einmal, als sie zu Besuch kamen, muÃten wir Jamesâ
Sachen über das Wochenende in sein Auto packen. Mein Vater fand im Bad eine Sports Illustrated , und ich muÃte ihm weismachen, ich wäre
seit neuestem Baseballfan.«
Charlotte macht eine Pause.
»Im Herbst«, fährt sie dann fort, »bin ich fast gar nicht mehr zum
Unterricht gegangen. Ich habe lange Spaziergänge gemacht und ein biÃchen kochen
gelernt.«
»Sie haben Vater, Mutter, Kind gespielt«, sagt mein Vater
wegwerfend.
»Kann sein, ja.«
»Wo leben Ihre Eltern?«
Charlotte antwortet nicht.
»Ich werde sie nicht anrufen, falls Sie das fürchten«, sagt mein
Vater.
»Nein, es ist nur â¦Â«
»Ich werde auch die Polizei nicht holen«, fügt er hinzu. »Wenn ich
das wollte, hätte ich es schon getan. Das ist eine Entscheidung, die Sie selbst
treffen müssen.«
Ich beginne da drauÃen im Flur allmählich zu zittern vor Kälte. Gern
würde ich mir in die Hände blasen, aber ich wage es nicht, aus Angst, mich zu
verraten. Mein Vater würde fuchsteufelswild werden, wenn er mich beim Lauschen
ertappt.
»Sie leben in Rutland«, sagt Charlotte.
»In Vermont?«
»Ja. Sie haben beide in einer Papierfabrik gearbeitet. Aber sie sind
entlassen worden. Meine Mutter arbeitet jetzt in einem Drugstore, aber mein
Vater hat immer noch nichts gefunden.«
»Es muà schwer für sie gewesen sein, Ihr Studium zu bezahlen«, sagt
mein Vater.
»Einer meiner Brüder gibt etwas dazu. Hat etwas dazugegeben. Und ich
hatte Darlehen. Jetzt wahrscheinlich nicht mehr.«
»Und das Auto?«
»Das alte von meinem Bruder. Er hat es mir geschenkt.«
»Wo ist das College?«
»Universität von Vermont.«
»Sie sind weit weg von Burlington«, sagt mein Vater.
Ich weiÃ, wo Burlington ist. Ich war in Stowe beim Skilaufen, es ist
nicht weit entfernt von der im Norden Vermonts gelegenen Stadt.
»Als die Wehen einsetzten«, sagt Charlotte, »haben wir uns ins Auto
gesetzt. James wollte möglichst weit weg vom College. Dann hörten die Wehen
eine Zeitlang ganz auf, und wir sind einfach weitergefahren. Als es wieder
losging, haben wir nach Motelschildern Ausschau gehalten. Das war Jamesâ Plan.
In ein
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