Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Stille über dem Schnee

Stille über dem Schnee

Titel: Stille über dem Schnee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
Vom Netzwerk:
Nähe des Krankenhauses wohnten. »Du kannst dort essen und
ein bißchen fernsehen, und ich hole dich später ab.«
    In dieser Nacht wurde Clara stundenlang behandelt. Sie hatte eine
nicht ungewöhnliche, aber für ein Kind lebensbedrohliche Lungenentzündung. Man
sagte meiner Mutter, daß sie die Nacht vielleicht nicht überstehen würde. Aber
das erfuhr ich erst viel später.
    Bei Jeff und Mary bekam ich eine Pizza und durfte lange aufbleiben
und fernsehen. Ich schlief in einer Bluse, die Mary gehörte, im Gästezimmer. Am
nächsten Morgen fuhr Jeff mich nach Hause, damit ich mich für die Schule
umziehen konnte. Als wir ankamen, stand die Haustür offen, und es war eiskalt
im Haus. Die Blätter einer Zeitung, die meine Mutter auf den Tisch gelegt hatte,
waren im ganzen Zimmer verstreut. Jeff ließ mich draußen warten, während er,
geduckt wie die Polizisten im Fernsehen, sämtliche Zimmer inspizierte. Dann kam
er wieder und sagte, das Haus sei leer, es sei nichts angerührt worden.
Trotzdem hatte ich Angst hineinzugehen. Jeff hatte versucht, mir klarzumachen,
daß meine Mutter in der Eile vergessen hatte, die Haustür zu schließen. Er
mußte trotzdem mit mir nach oben kommen und vor meiner Zimmertür Wache stehen,
während ich mich umzog.
    Clara mußte drei Tage im Krankenhaus bleiben. Meine Mutter wich
nicht von ihrer Seite. Mein Vater ging nur morgens zur Arbeit, damit er zu
Hause sein konnte, wenn ich von der Schule kam. Dann fuhren wir zusammen ins
Krankenhaus, am zweiten Tag zuversichtlicher als am ersten, am dritten Tag
zuversichtlicher als am zweiten. Am dritten Abend nahmen wir Clara mit nach
Hause. Sie wog zwei Pfund weniger und sah ganz dünn aus, wie ein gerupfter
kleiner Vogel. In den folgenden zwei Wochen sahen meine Mutter und mein Vater
einander bisweilen seufzend an und schüttelten die Köpfe, als wollten sie
sagen: Das war knapp .
    Â»Du hast deiner Schwester wahrscheinlich das Leben gerettet«, sagte
meine Mutter einmal zu mir.
    Ich erwache bei Tagesanbruch. Von meinem Platz auf dem Boden
aus sehe ich etwas, was ich seit Tagen nicht mehr gesehen habe – einen
taubenblauen Himmel, von rosa Fäden durchwirkt. Charlotte schläft noch. Selbst
mein Vater scheint noch nicht aufzusein.
    Der
Tag kommt rasch im Norden von Neuengland. Ich weiß, daß die Sonne innerhalb von
Minuten, wenn nicht sogar Sekunden, aufgehen wird. Ich warte, warm und geborgen
in meinem Schlafsack. Ich rufe mir die Ereignisse der vergangenen Nacht ins
Gedächtnis. Da wurde eine Geschichte erzählt, die bei Tageslicht nicht zu
glauben ist.
    Die Sonne steigt über den Gipfel des Bott Hill und erleuchtet die
schneebedeckten Wälder und Wiesen mit einem so intensiven rosafarbenen Licht,
daß ich einfach aus dem Schlafsack schlüpfen muß, um es mir anzusehen. Die
Farbe ergießt sich langsam über die Landschaft, und zum erstenmal in meinem
Leben wünsche ich mir einen Fotoapparat. Ich weiß, daß wir einen hatten – ich
kann mich erinnern, wie mein Vater das Bild machte, auf dem ich auf dem Bett
meiner Mutter sitze und Clara im Arm halte, und in meinem Album sind viele
andere Fotos zum Beweis –, aber ich habe ihn nicht mehr gesehen, seit wir hier,
in New Hampshire, angekommen sind. So wenig, wie mein Vater mit all den anderen
Dingen aus unserem früheren Leben umgehen kann, so wenig erträgt er diese
Erinnerung an gemeinsam aufgenommene Familienfotos. Aber an diesem Morgen,
während der drei oder vier Minuten, da der Schnee Feuer gefangen hat, wünsche
ich mir einen Apparat. Ich bilde mit Daumen und Zeigefingern ein Viereck, nehme
verschiedene Ausschnitte ins Visier und schnalze bei jedem kaum hörbar mit der
Zunge. Dann ist das herrliche Rosa wie durch Zauberhand vergangen, und der
Schnee ist nur noch weiß und hell und für die Augen kaum zu ertragen. Die Farbe
des Himmels vertieft sich zum leuchtenden Blau der Ansichtskarten. Nur die
hohen Kiefern zeigen etwas Grün.
    Charlotte liegt noch sanft schnarchend auf dem Boden. Vielleicht
schnarcht jeder. Ich finde es erstaunlich, daß sie überhaupt schlafen kann – im
Wohnzimmer ist es so hell wie seit Wochen, vielleicht seit einem ganzen Jahr
nicht mehr. Und in dem hellen Licht wird der Staub sichtbar: der Aschenstaub
vor dem offenen Kamin; die feine Schicht gewöhnlichen Hausstaubs auf dem
Couchtisch; ein spinnwebartiger Staub auf den

Weitere Kostenlose Bücher