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Stille Wasser

Stille Wasser

Titel: Stille Wasser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Anne Gilman , Josepha Sherman
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Umkreis gefunden hatte, ausnahmslos angesehen, von dem Tag an, an dem die ersten von ihnen hereingebracht worden waren, bis zu jenem Moment, als man sie wieder in die Freiheit entließ. Einige wenige, die noch zu schwach waren, um bereits wieder für sich selbst zu sorgen, hatte man noch dabehalten. Leider handelte es sich dabei jedoch nicht um Robben, die sich in irgendeiner Weise sonderbar verhielten. Tatsächlich war in all den Tagen nicht ein einziger Seehund dort abgeliefert worden. Nur ein alter, ergrauter Seelöwe, dessen Lungen bei der Katastrophe Schaden genommen hatten, aber der war bereits in sein neues Zuhause im örtlichen Zoo überführt worden. Von Seehunden jedoch keine Spur.

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    Als ob jemand sie vor dem Unglück gewarnt hatte...
    Lee schüttelte den Kopf und verwarf den Gedanken. Die fehlenden Berichte über in Mitleidenschaft gezogene Seehunde verwunderten ihn nicht wirklich – Selkies waren schlau und gerissen und es sah ihnen überhaupt nicht ähnlich, sich von vergleichsweise schwerfälligen Menschen einfangen zu lassen.
    Nein, diese fluchbeladenen Kreaturen mussten hier irgendwo sein; er konnte sie spüren, mit jeder Faser seines Körpers. Und er würde nicht zulassen, dass ein weiteres unschuldiges Küstenstädtchen zum Opfer ihrer niederträchtigen Bosheit wurde. Die Legenden, in denen von ihnen als Engelswesen gesprochen wurde, die vom Himmel herab auf die Erde gekommen waren, legten lediglich Zeugnis ab von der Ratlosigkeit, mit der die Menschen vergangener Jahrhunderte der widersprüchlichen Natur dieser Geschöpfe begegneten: die Gesichter von Engeln, die Augen von Märtyrern – und die Herzen von Teufeln.
    Oh Gott, wie melodramatisch. Lee grinste in sich hinein, selbstkritisch genug, um sich vorstellen zu können, wie seine Gedanken auf jemand anderen wirken mussten.
    Doch melodramatisch oder nicht, es entsprach der Wahrheit.
    Die Selkies waren seelenlose Wesen, ohne jeden Sinn für Ethik und Moral. Sie spielten mit den Menschen wie die Katze mit der Maus, zu ihrem eigenen Vergnügen, rissen sie nur so zum Spaß mal eben in Fetzen und ließen sie dann achtlos liegen wie ein langweilig gewordenes Spielzeug.
    Aber hier gab es für ihn nichts mehr zu tun. Nicht im Augenblick zumindest, nicht während der Flut. Er ging zu seinem Wagen zurück, um zum Institut für Meeresforschung aufzubrechen, wo er sich mit den E.L.F.-Gruppenleitern treffen wollte. Vielleicht konnte er ihnen ein wenig ihre blutenden Herzen öffnen...
    Schluss damit, schalt er sich selbst, wütend über den galligen Zynismus, den er in letzter Zeit immer häufiger bei sich 79

    feststellte. Er hatte die E.L.F. aus eben den Beweggründen ins Leben gerufen, aus denen sie sich ihr angeschlossen hatten: Er wollte den Bürgern dieses Landes die Möglichkeit geben, sich aktiv an der Errettung jener bedauernswerten Geschöpfe, die tagtäglich Opfer menschlicher Anmaßung wurden, zu beteiligen. Und wenn diese Möchtegern-Greenpeacler sich dabei als ein wenig blauäugig, ein wenig inkompetent erwiesen, so war das sicher nicht das schlimmste Verbrechen, dessen sich ein Mensch schuldig machen konnte.
    Oh, nein. Es gab weitaus Schlimmeres auf dieser Welt.

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    Sie trotteten schweigend den düsteren Tunnel hinab, der sich unter der Menschenstadt herzog, grünliche Lippen verzogen sich zu einem Ausdruck des Ekels und entblößten blitzende weiße Fangzähne.
    SIE RIECHEN NACH FÄULNIS, zischte einer der Merrows in ihrer kaum vernehmbaren Sprache.
    NICHT SO SEHR, ALS DASS DU NICHT AUSGIEBIG VON IHNEN
    GEKOSTET HÄTTEST, schnarrte ihr Anführer zurück.
    ABER DIESE... DIESE..., setzte der Erste an und wies mit einer weit ausholenden Geste seines schuppenbewehrten Arms auf das tropfnasse Mauerwerk und die sich am Boden angesammelten Klumpen aus aufgeweichtem Müll.
    SIE LEBEN AUF DEM TROCKENEN, ES GIBT HIER KEINE
    STRÖMUNGEN, DIE IHREN UNRAT MIT SICH FORTSPÜLEN
    KÖNNTEN. SIE MÜSSEN SICH KÜNSTLICHE STRÖMUNGEN
    ERSCHAFFEN, INDEM SIE TUNNEL WIE DIESEN GRABEN UND IHRE
    ABFÄLLE VON DEN ORTEN AUS, AN DENEN SIE LEBEN, WEITERLEITEN.
    IN UNSERE HEIMAT, setzte einer der anderen Merrows verbittert hinzu, UNSERE MUTTER, DEN OZEAN.
    Die anderen Merrows in der Meute bekundeten grollend ihre Zustimmung. Es war die Verheißung süßen, köstlichen Menschenfleisches gewesen, die sie hierher geführt hatte. Doch je mehr sie über all das nachdachten, desto größer wurde ihr Hass auf die Menschen, diese verdammenswerten Geschöpfe des Landes.

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