Stiller Tod: Thriller (German Edition)
Die Wohnung ist schäbig. Nicht dreckig, aber so ziemlich der hässlichste Raum, in dem er je war.
Dawn nimmt Brittanys Hand und sagt: »Nick, warte hier, ich geb die kleine Lady nur eben bei Mrs. de Pontes ab.«
»Willst du Brittany wirklich hierlassen?«
»Ja, sonst mach ich mir doch nur andauernd Sorgen wegen ihr und dem Meer. Ist besser so.«
Er nickt, und ihre Stimmen verhallen den Flur hinunter, Brittany quengelt, und Dawn erklärt ihr, dass es nur für eine Nacht ist, dass sie Onkel Nick helfen muss, Sachen zu packen, und dass es dafür morgen eine Überraschung gibt. Eine ganz große, verspricht sie.
Exley geht über den fleckigen und schäbigen Teppich – vor langer Zeit mag er mal beige gewesen sein – und blickt durch die mit einem Vorhängeschloss gesicherte Balkontür nach draußen. Die Tür ist vergittert, und eine Spirale verrosteter Stacheldraht zieht sich rings um das Geländer des kleinen Balkons, obwohl die Wohnung im zweiten Stock liegt. Unten auf der Voortrekker Road dröhnt und pulsiert der Verkehr, das Gehupe der Sammeltaxis und das Gebrüll ihrer Fahrer steigen zu ihm hoch.
Er dreht sich um und lässt den Blick durch die Wohnung wandern, wobei er sich irgendwie illoyal vorkommt. Ein zerschlissenes Sofa. Ein kleiner Fernseher, dessen Plastikgehäuse auf einer Seite mit Paketband zusammengeflickt ist. Ein Doppelbett, ordentlich gemacht, mit einer weißgrauen Tagesdecke darauf, die an den Rändern ausfranst. Ein Rudel Stofftiere auf den Kissen verteilt.
Ungerahmte, postkartengroße Fotos von Brittany – als Säugling, als Kleinkind, wie ein Engel in einem Krippenspiel verkleidet – sind an die braunen Wände gepappt, die Ränder wellig vom feuchten Putz. An dem Kleiderschrank, der so gerade eben neben das Bett passt, hängt eine Tür lose an einem kaputten Scharnier. Neben dem Bad ist eine Küchenspüle unter einem Milchglasfenster, eine Mikrowelle und eine Kochplatte stehen auf der Arbeitsfläche.
Das Fehlen von Schönheit, das Fehlen von Anmut, beängstigt Exley. Ganz egal, wie arm er und seine Mutter waren (oder er und Caroline in der Anfangszeit), ihre Wohnungen waren stets voll mit Büchern,frischen Blumen und gerahmten Drucken, die sie in Trödelläden ergattert hatten, alte Möbel versteckt unter leuchtenden Stoffen und Kissen.
Das hier ist der Friedhof der Fantasie.
Scheiße, was zum Teufel machst du hier eigentlich?, fragt er sich. Was hast du dir dabei gedacht? Und in diesem Moment will er nur noch machen, dass er wegkommt, ohne Rücksicht auf Verluste.
Zu spät.
Dawn kommt herein und macht die Tür zu und schließt sie ab, dreht sich zu ihm um und sieht ihm ins Gesicht. »Was hast du erwartet, Nick? Ein Penthouse?«
»Nein, nein. Ist doch nett.«
Sie lächelt ihn an. »Erzähl keinen Scheiß. Es ist ein Drecksloch, und das weiß ich.« Sie winkt ihn mit einem Finger näher. »Komm mal her.« Sie geht zum Küchenfenster hinüber, öffnet es mit einigem Kraftaufwand.
Nick folgt ihr, und seine Nase rebelliert, als sie den gasigen Kanalgeruch riecht, der hereinweht. Das schmale Fenster blickt auf ein Stück Bahntrasse, eine Brücke, ein paar Billigläden und dann eine endlose Fläche mit kleinen, dicht an dicht stehenden Häusern und gesichtslosen Plattenbauten.
»Weißt du, was das ist?«, fragt sie.
»Die Cape Flats?«
»Ja. Schon mal da gewesen?«
»Nein.«
»Okay, ich bin da aufgewachsen. Für die meisten Leute, die da leben, ist so eine Wohnung wie die hier das reinste Paradies. Als Kind hab ich in einem Haus gewohnt, das kleiner war als dieses Zimmer, aber manchmal waren wir zu zehnt da drin. So was wollte ich Britt ersparen, also bin ich abgehauen und hab getan, was ich tun musste, um uns das hier zu besorgen und es zu behalten.«
»Ich versteh das, Dawn«, sagt er.
»Nein, Nick, du verstehst nichts, verdammt nochmal. Als ich inBrittanys Alter war, hatten mich mein Onkel und seine drei Söhne und manchmal auch die Freunde von denen schon seit Jahren vergewaltigt.« Sie sieht sein Gesicht, fährt aber schonungslos fort. »Das ging so weiter, bis ich zehn war und das Jugendamt endlich auf den Trichter kam, mich von meiner verkorksten Mutter wegzunehmen und in ein Waisenhaus zu stecken. Als ich sechzehn war, bin ich weggelaufen und anschaffen gegangen.«
»Das tut mir leid.« Seine Worte klingen für ihn selbst hohl.
»Muss es nicht. Ist lange her. Glaub mir, so was ist da draußen an der Tagesordnung, dass Kinder vergewaltigt und ermordet werden, ist ganz
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