Stiller Tod: Thriller (German Edition)
Herz.
»Britt?«, ruft sie. »Brittany!« Sie kniet sich hin, und das Zimmer wird von einer schmutziggrünen Neonröhre erhellt, als Nick den Schalter findet.
Eine Frau, etwa sechzig, liegt auf der Seite, die Augen halb offen, der Mund aufgerissen, das falsche Gebiss vom Zahnfleisch gerutscht. Dawn hat in ihrem Leben schon genug Tote gesehen, um zu wissen, dass diese Frau nicht mehr lebt. Dennoch tastet sie mit den Fingerspitzen knapp unter dem Kiefer nach dem Puls.
Nichts.
Dawn schüttelt den Kopf, flippt jetzt vor Angst fast aus, springt auf und rennt in die zwei kleinen Schlafzimmer. Eines riecht nach der kranken alten Frau, in dem anderen – kahl wie eine Gefängniszelle – hängt schwer der Geruch von Vernons Haargel.
Keine Spur von ihrer Tochter. Vielleicht hat er sie woanders hingebracht. Vielleicht liegt sie irgendwo tot unter dem weißen Treibsand der Flats. Während sie im Bad und in der Küche nachsieht, hört Dawn sich selbst beten, altes katholisches Zeug von soweit weg, dass sie nicht mal weiß, wieso sie sich daran noch erinnert.
Die Küchentür steht offen, lässt die Nacht herein, und Dawn stürmt nach draußen. Bloß ein klitzekleiner Garten, eine durchhängende Wäscheleine. Eine nackte gelbe Glühbirne hängt an einem Kabel, wirft Licht auf einen niedrigen Drahtzaun, der das Haus von dem Schuppen nebenan trennt.
Dawn, die Waffe in der Hand, dreht sich im Kreis, ruft den Namen ihrer Tochter. Sucht in den Schatten nach ihr.
»Dawn!«
Sie wendet sich zu Exley um, der über den Zaun zeigt, und Dawn sieht den kleinen Bären, Mr. Brown, im Staub vor dem Schuppen liegen.Sie flankt mit einem Satz über den verrosteten Drahtzaun, lässt sich von der Glock zur Tür ziehen, schreit den Namen ihres Kindes. Hört leises Rufen.
Dawn packt die Klinke und stößt dagegen. Die Tür gibt etwas nach, geht aber nicht auf. Sie macht einen Schritt nach hinten und tritt einmal fest dicht neben das Schloss, und die Tür fliegt nach innen, und Dawn ist im Schuppen, in dem eine Paraffinlampe Schatten in die tikgeschwängerte Luft wirft.
Sie sieht flüchtig einen mit Gefängnis-Tattoos bedeckten Oberkörper auf einer zerrissenen Matratze liegen, und dann sieht sie Brittany, nackt, auf dem Boden, die Arme zu ihr hochgestreckt, und sie hält die Waffe auf das Etwas auf dem Bett gerichtet und hebt ihr Kind mit dem freien Arm auf, hält es fest, sagt: »Schätzchen, Schätzchen, Schätzchen.«
KAPITEL 55
Exley steht breitbeinig über Vernon, wobei er aufpasst, nicht in den Glorienschein aus Blut zu treten, und späht durch den Sucher der digitalen Spiegelreflexkamera, um ein Porträtfoto von ihm zu machen, während er zu begreifen versucht, warum gerade dieser Mann dazu ausersehen war, Sunnys Schicksal zu entscheiden.
Die einzige Antwort ist sein eigenes Spiegelbild in der milchigen Pupille eines halb offenen Auges. Er drückt den Auslöser, hört das Guillotinengeräusch des Kameraspiegels, und das Blitzlicht nimmt die Farbe aus Vernons blutverschmiertem Gesicht und den höhnisch lächelnden Lippen.
Er kniet sich hin, macht eine Profilaufnahme – das Zoomobjektiv sondiert die Krater alter Aknenarben – und dann Referenzfotos von der Schutzweste des Toten und dem schmutzigen Verband an seinem Arm. Exley weiß, dass er sich mit solchen Fragen nur selbst in den Wahnsinn treiben wird. Ebenso wie mit Fragen nach dem Grund, warum seine Tochter tot ist und das Mädchen eine Etage über ihm, ihre Beinahe-Doppelgängerin, lebt.
Der Versuch, einen karmischen Faden zu finden, der die beiden Mädchen verbindet, versetzt Exley zurück in den Schuppen irgendwo draußen in den Cape Flats, die Luft dick verqualmt von Meth-Rauch, der abgemagerte Mann – nur Rippen und Tattoos und ein schlaffer lila Schwanz – völlig weggetreten auf einer zerfetzten Matratze, sein Mund ein nasses Loch aus fauligen Zähnen.
Dawn hob das nackte Kind auf und floh, während Exley Brittanys Kleidung und den kleinen Bären aufsammelte, um dann hinter Mutter und Tochter herzulaufen und zu fragen, ob das Kind okay sei, worauf Dawn ihn anschrie: »Schnell, schnell! Bring uns endlich hier raus!«
Die Fahrt durch diese nicht enden wollende Armensiedlung, der Wagen auf Kriechtempo verlangsamt hinter einem Schrottkarren, der von einem Pferd gezogen wurde, ein fast dickensscher Anblick in der wirbelnden Gaze aus Staub, die Flanken des Tiers mit Geschwüren bedeckt, die von Fliegen wimmelten, ein Guss gelbe Pferdeäpfel, den der Gaul von sich gab,
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