Stille(r)s Schicksal
…
Anne spürte, dass er einfach nicht verstehen wollte und schwieg abrupt.
Sven war nicht imstande, seine Gedanken in Worte zu fassen, so war das Schweigen sofort wieder zwischen ihnen.
Vor der ehemaligen Tankstelle bogen sie rechts in die Stadt ein. Kurz darauf waren auch schon die ersten Häuser am Park zu sehen.
Anne berührte ihn zaghaft am Arm und bat: "Sven, lass´ mich bitte dort vorn raus. In dem zweiten Würfelhaus wohne ich, im sechsten Stock. Das weißt du doch alles. Und ich habe dir auch meine Telefonnummer gegeben. Wir werden uns schon nicht so schnell aus den Augen verlieren …"
Sie versuchte ihn zu trösten, denn sie konnte seine Traurigkeit fühlen als wäre es ihre eigene.
"Hin und wieder können wir uns schon mal treffen", machte sie ein weiteres Zugeständnis und dachte halbherzig, warum eigentlich nicht?
Da keimte die Hoffnung in ihm wieder auf, doch er wollte sie auf keinen Fall zerreden. Also zog er scheinbar gleichmütig die Handbremse an. Als sie unerwartet seinen Kopf zwischen ihre Hände nahm und ihn auf die Stirn, die Wangen und auch auf den Mund küsste, war er zwar überrascht, aber er ließ es geschehen. War das ihre neue Zärtlichkeit? Ja, vielleicht. Aber trotzdem kam er sich vor wie ihr Kind oder ihr Bruder. Ähnlich wie zu Beginn ihrer gemeinsamen Zeit auf Teneriffa.
Mit den Küssen aus ihren späteren Inselnächten hatten diese hier überhaupt nichts mehr zu tun. Er musste schlucken, so bitter traf ihn diese Erkenntnis.
Wehmütig dachte er daran, dass er sich sogar einmal vorgenommen hatte, ihretwegen einen Deutschkurs auf der Volkshochschule zu belegen, damit er ihr eines Tages vielleicht einmal ebenbürtig war, was den Gebrauch von Wörtern anging. Ob ich ihr das einfach sage - oder ob ich mich damit vollends lächerlich mache? Er überlegte krampfhaft, entschied sich dann aber, vorerst doch nichts davon zu erwähnen.
Er war sich auch gar nicht so sicher, ob er solche Vorsätze auch wirklich in die Tat umsetzen konnte. Er hatte es schließlich noch sie so wichtig mit den Wörtern gehabt.
Hin- und hergerissen von seinen Selbstzweifeln, stieg er mit ihr aus, nahm die Reisetasche aus dem Kofferraum. Wie auf Verabredung vergewisserten sie sich beide, dass es diesmal auch die richtige Tasche war.
Schade eigentlich, dachte Sven, damit haben wir von vornherein einen triftigen Grund ausgeschlossen, uns schnellstens wieder zu besuchen.
Wenigstens wollte er ihr die Tasche bis nach oben tragen. An der Haustür blieb Anne jedoch stehen, lächelte gekünstelt. Stocksteif stand sie da, den Blick gesenkt. Alles an ihrer Haltung deutete auf Ablehnung und hielt Sven nun doch davon ab zu fragen, ob er mit hochkommen dürfe. Er wagte es nicht einmal, sie in den Arm zu nehmen, doch da ergriff Anne schnell die Initiative, umarmte ihn flüchtig, schnappte dann sogleich ihre Reisetasche und war im nächsten Moment im Haus verschwunden. Sven fühlte sich, als wäre er von Gott und der Welt verlassen. Dass sie sich noch einmal kurz umdrehte und winkte, änderte nichts an seinem Schmerz, der ihn jetzt durchfuhr. Sven erhob nun ebenfalls die Hand zu einem Winken, obwohl er am liebsten die gläserne Haustür eingetreten hätte.
Er blieb noch einen Moment stehen, fragte sich, ob dieser kurze Abschied nicht ein Fehler gewesen war, ein ebenso unnötiger wie schmerzhafter Schnitt. Er versuchte durch das Milchglas zu schauen, aber Anne war nirgends mehr zu sehen.
Auch Anne hatte ähnliche Gedanken, doch sie redete sich ein, sich gar nicht anders verhalten zu können.
Sie stieg nicht so leichtfüßig wie sonst die sechs Treppen in ihr "Wolkenkuckucksheim", er setzte sich schließlich doch mit klopfendem Herzen in seinen Trabant, legte den Gang ein, gab langsam Gas und ließ die Kupplung kommen. Beim Anfahren beugte er sich noch einmal übers Lenkrad, verdrehte den Kopf vor der Windschutzscheibe, schaute suchend über die obere Fensterfront. Vielleicht stand sie ja dort, bereute ihren kühlen Abschied und war schon wieder auf dem Weg nach unten - zu ihm? Er nahm den Gang heraus, stellte den Motor ab und wartete darauf, dass sich die Haustür endlich wieder öffnen würde. Doch als das nach einer halben Stunde noch immer nicht geschehen war, ließ er den Motor wieder an.
Umsorgt, gegängelt, erdrückt
"Sven, da bist du ja endlich!" rief seine Mutter schon im Flur. "Hast du etwa im Stau gestanden?"
Ihre Stimme kam ihm heute ziemlich schrill vor. Komisch, sonst war ihm das noch gar nicht
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