Stille(r)s Schicksal
sein. Der helle Flur mit dem bunt bemalten Bauernschrank. Das rustikale Regal, auf dem das Telefon in seiner Mulde ruhte, das blinkende Licht im Anrufbeantworter, der schmiedeeiserne Schirmständer, in dem eigentlich noch nie ein Schirm gestanden hatte.
In der Küche strich sie leicht über eine Ecke der dicken Eichentischplatte. Sie liebte diesen Tisch, obwohl er eigentlich viel zu groß für sie allein war. Sie hatte ihn wohl in einem Anflug von Sehnsucht nach einer großen Familie gekauft. Bei diesem Gedanken streifte sie wieder ein Hauch dieser unerklärlichen Wehmut.
Sie machte sich daran, dieses schmerzliche Gefühl mit einem guten Tee zu vertreiben. Während sie den Wasserkocher in Betrieb setzte, fiel ihr Blick wieder auf den Tisch. Neben einem sorgfältig aufgestapelten Zeitungsberg lag die Post der letzten drei Wochen, dahinter entdeckte sie einen Teller, der mit Folie abgedeckt war.
"Hm, Obstkuchen!" Wieso hatte sie den nicht gleich gerochen? Diese Frau Hörentz! Sie musste sich unbedingt bei ihr bedanken. Nicht nur für den wunderbaren Rhabarberkuchen, sondern auch für die Blumenpflege und das Leeren des Briefkastens. Und überhaupt!
Vor allem schätzte Anne die Zurückhaltung, die Frau Hörentz trotz aller Freundlichkeit an den Tag legte. Sie hat mich doch bestimmt kommen gehört, aber sie vermeidet es tunlichst, mich gleich mit Fragen zu bestürmen.
"Ach Kindchen", hatte sie einmal gesagt und ihr dabei verschwörerisch zugezwinkert, "wenn Sie mir etwas erzählen wollen, dann werden Sie das auch ohne meine Fragen tun. Und wenn Sie nichts erzählen wollen, so ist das auch in Ordnung."
Es lag wohl auch an diesem gegenseitigen Respekt, der die beiden unterschiedlichen Frauen, die das Schicksal vor nun fast einem Jahr auf einem Flur zusammengeführt hatte, recht gut miteinander auskommen ließ.
Anne wunderte sich, wie winzig ihr der eigene Roseneibisch jetzt vorkam, verglichen mit dem im Hotelgarten und den noch viel größeren an den Straßenrändern. Ach Teneriffa, dachte sie sehnsuchtsvoll, nichts von dieser Insel würde sie vergessen, nicht den braun-goldenen Sandstrand am ewig lebendigen Meer, nicht die Berge und die Höhlen der alten Guanchen, nicht die tiefen Canons aus rostbraunem Sandstein, nicht die Fischerboote im malerischen Hafen von Los Abrigos, schon gar nicht den Flamenco im Restaurante. Also auch Sven nicht?
Natürlich auch nicht Sven, mit dem sie das alles erlebt hatte. Eine schöne Zeit …
Doch das war Urlaub, und der war vorbei! Sie musste sich selbst zur Raison rufen. Jetzt hatte sie der Alltag mit all seinen Pflichten wieder. Sie nahm noch einen Schluck Tee, biß herzhaft in den Rhabarberkuchen und machte sich anschließend daran, ihre Tasche auszuräumen, die Waschmaschine zu füllen und den Anrufbeantworter abzuhören.
Entschlossen drückte sie die Wiedergabetaste.
Tina, eine Freundin aus Kindertagen, die inzwischen in Frankreich wohnte und sich wohl in einem Anfall von Heimweh erinnert hatte?
Irgendwelche Meinungsforschungsinstitute. Löschtaste!
Ah, die Stimme ihres Chefs! "Es tut mir leid, Sie haben am Montag Frühdienst, Ihre Kollegin muss zum Arzt. Also, dann tschüss, bis morgen früh!"
Na, toll! Nicht einmal ihren Namen schien der noch zu wissen! Schade, dass sie nun morgen früh doch nicht ausschlafen konnte …
Seufzend griff sie zur Post.
Obenauf ein Brief, der aus unerfindlichen Gründen nichts Gutes verhieß. Anne schaute auf den Absender. Ihre Hausärztin? Was wollte die denn? Noch während sie den Brief aufriss, war er plötzlich wieder da: dieser höllische Schmerz im Unterleib. Ihre Ahnung, dass er wiederkommen würde, sobald der Urlaub vorbei war, hatte sich also bestätigt. Ein paar Wochen lang hatte das krampfhafte Rumoren Ruhe gegeben, jetzt war es um so heftiger wieder da.
Zitternd schleppte sich Anne ins Bad, setzte sich auf den Wannenrand, nahm ihr Schmerzmittel und blieb noch ein Weilchen sitzen. Das mörderische Ziehen sollte erst etwas nachlassen. Sie überlegte, was denn die Ärztin von ihr wollen könne. Doch gleich darauf schlug sie sich mit der flachen Hand an die Stirn.
Da saß sie auf dem Wannenrand und rätselte herum, anstatt einfach den Brief aus dem Umschlag zu nehmen und ihn zu lesen. Also nahm sie sich zusammen, versuchte es mit Autosuggestion (Nein! ich habe gar keine Schmerzen!) und kam so irgendwie in den Stand. Der Gang zurück in die Küche klappte mit jedem Schritt etwas besser. Sie war sogar imstande sich kerzengerade
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