Stille(r)s Schicksal
aussehen mochte? Mehr wie Anne? Oder ob sie mir ähnelt, ihrem Vater?
Sven kam mehr nach seiner Mutter, vom Vater hatte er offenbar gar nichts.
Mutter und Vater, das waren Anne und er ja nun auch, daran würden sie sich wohl beide erst gewöhnen müssen. Fast spürte er so etwas wie Stolz in sich aufkeimen, doch dann kroch wieder diese Angst in ihm hoch, seiner neuen Rolle womöglich nicht gerecht werden zu können.
Auf keinen Fall wollte er so werden wie sein eigener Vater. Sollte sich Laura später ruhig ihre Geschichten ausdenken - er würde seine Tochter deshalb nicht gleich zur Lügnerin abstempeln. Er konnte sich auch nicht vorstellen, sie jemals zu demütigen oder gar zu schlagen.
Das nahm er sich fest vor.
Trotzdem hatte er auch wieder Angst. Die Kleine würde bestimmt jede Menge Fragen stellen, auf die er keine Antwort wusste. Und dann noch alle diese anderen Aufgaben!
Wie sollte er gleichzeitig Vater, Ehemann, Krankenpfleger, Koch, Wasch- und Putzfrau, Sohn und Maurer sein?
Sven fühlte sich ausgelaugt und total überfordert, bevor die Schwierigkeiten überhaupt so richtig begonnen hatten. Dieses deprimierende Gefühl verfolgte ihn bis in seine Träume.
Zwei Kilogramm Leben …
Am nächsten Tag stand Sven am Wärmebettchen seiner kleinen Tochter. Er konnte gar nicht aufhören, sie zu betrachten.
Laura lag so ruhig da, so winzig, so hilflos unter dieser durchsichtigen Haube. Es sah aus, als schliefe sie, nur die zarten Nasenflügel bebten ganz leicht. Ihr Anblick weckte auf der Stelle seinen Beschützerinstinkt, die Angst gab sich angesichts dessen sofort geschlagen und verschwand. Vorerst.
Bei Tageslicht sieht eben doch alles viel freundlicher aus, das hatte schon Oma Neumaier gewusst, wenn er sich als kleiner Junge bei ihr ausgeheult hatte.
"Schlaf erst mal drüber, Jungchen, morgen sieht alles ganz anders aus!" hörte er sie in seiner Erinnerung sagen. Damals hatten ihm diese Worte zwar wenig getröstet, weil sie ihm die Furcht nicht hatten nehmen können, wieder nach Hause, zu seinem Vater, zu müssen.
Doch heute wollte er gern an Großmutters Worte glauben.
Wieder fiel sein Blick auf das zarte, blasse Wesen. Es würde wohl noch eine Menge Zeit vergehen, ehe Laura ihren Vater etwas fragen könnte. Das beruhigte ihn einigermaßen.
Leicht trommelte er jetzt mit den Fingerkuppen an die schützende Haube.
"Hallo, Laura, hier ist dein Papa!", brachte er aus kratziger Kehle hervor und erschrak vor dem ungewohnten Wort, das ihm wie von selbst über die Lippen gekommen war.
Aber das Wesen lag einfach so da, unbeweglich, mit zahlreichen Schläuchen versehen, still und blass. Dadurch hatte Sven nun wieder einige Mühe, sich vorzustellen, dass es sich bei dem eingepackten Bündel tatsächlich um einen kleinen Menschen handeln sollte, noch dazu um seine eigene Tochter.
Doch mit einem Mal reckte sich das Bündel, hob ein Ärmchen in die Höhe, als wolle es ihm zuwinken, ließ es dann wieder kraftlos fallen, stieß schließlich einen tiefen Seufzer aus, den Sven sogar durch die Haube hören konnte.
"Sie hat sich bewegt, sie lebt!"
Es war ihm nicht bewusst, dass er wieder ziemlich laut gedacht hatte. Die Schwester, die gerade hereingekommen war, musste bei seinem freudigen Ausruf unwillkürlich schmunzeln.
"Na aber, Herr Stiller, was haben Sie denn gedacht, natürlich lebt sie! Wir werden die kleine Laura schon noch ordentlich hochpäppeln."
Sven schaute die kleine, dralle Person erst skeptisch an und glaubte ihr dann doch aufs Wort. Erklären hätte er sein plötzliches Vertrauen nicht können, aber das brauchte er ja auch nicht. Seltsam, dachte er, für meinen Geschmack ist sie doch ein bisschen zu mollig. Doch die feuerroten, streng in einem Pferdeschwanz zusammengerafften, Haare gefielen ihm, vor allem die widerspenstigen Löckchen, die sich aus dem Ansatz gelöst hatten und nun rund um die glatte Stirn wippten. Dieser Ringeltanz strafte den ersten Eindruck von Strenge ebenso Lügen wie ihre Augen, die offen und freundlich dreinschauten.
Ein Glück, dachte er, sie wird man bestimmt mal etwas fragen können, was fachlich nicht so ganz astrein ist. Sie wird deshalb nicht auf mich herabschauen und vielleicht so antworten, dass ich es verstehe. Zu all den Erklärungen des Stationsarztes, vorhin, hatte er nämlich immer nur ergeben genickt, obwohl er nur einen Bruchteil von dem Gesagten verstanden hatte. Was sollte er auch anfangen mit solchen Begriffen wie Verengung des Bronchialbaumes
Weitere Kostenlose Bücher