Stille(r)s Schicksal
oder was der Doktor ihm da alles beibringen wollte? Die Ärzte hatten ja schließlich studiert, die würden schon das Richtige wissen und tun.
"Ja, Schwester Heidi", ihren Namen hatte er auf dem Schildchen an ihrem Kittel entdeckt, „davon bin ich überzeugt. Laura sieht ja auch ganz zufrieden aus unter ihrer Haube. Auch der Stationsarzt hat mir schon gesagt, dass alles für unsere Tochter getan wird. Aber erst jetzt, wo ich Sie gesehen habe, kann ich das wirklich glauben."
Er nickte ihr zu. Seine Worte kamen ihm trotzdem komisch vor, was redete er da nur für geschwollenes Zeug?
Schwester Heidi war bei Svens treuherzigen Worten ein wenig rot geworden, denn es kam nicht so oft vor, dass sich die Eltern der kleinen Patienten so vertrauensvoll äußerten. Verlegen wandte sie sich wieder ihrer Arbeit zu, nicht ohne ihm vorher noch ein freundliches Lächeln zu schenken, bei dem kleine Fältchen in den Augenwinkeln und tiefe Grübchen in den Wangen zum Vorschein kamen.
Fast wie bei Anne, dachte er.
„ Nun, Herr Stiller," wechselte die Schwester gleich wieder in einen unverbindlichen Ton, „wir werden uns in den nächsten drei Monaten bestimmt noch öfter sehen, denn so lange wird Laura auf jeden Fall noch bei uns bleiben müssen."
Mein Gott, das ist ja ein Vierteljahr, dachte er, schwankend zwischen Sorge und Erleichterung. Er bemühte sich, seine Freude nicht zu offenkundig zu zeigen. Wie nebenbei beobachtete er, wie die Schwester ihr Namensschild am Kittel gerade rückte. Er ertappte sich bei dem Gedanken, dass er das gern selbst übernommen hätte, denn der Kittel wies an dieser Stelle genau die richtige Form auf. Mühsam riss er sich zusammen.
"Doch so lange?"
Seine Frage sollte bestürzt und erschrocken klingen. Aber ob er den gewünschten Tonfall auch getroffen hatte, wusste er nicht. Schließlich fand er es doch ganz in Ordnung, dass Laura noch drei Monate hier bleiben sollte.
Mit der Manier würde er zum Beispiel auch Schwester Rotschopf, ihre Grübchen und den Kittel mit den Wölbungen öfters sehen, und natürlich war seine Tochter hier viel besser aufgehoben als zu Hause bei ihrer kranken Mutter, die sich selbst kaum helfen konnte. Und ich, dachte er, habe ja schließlich auch noch ein Arbeitsverhältnis auf dem Bau, das ich ja wohl nicht wegen der Kinderpflege aufs Spiel setzen werde. Er war froh, dass Schwester Heidi seine Gedanken nicht lesen konnte.
"Nehmen Sie es nicht so tragisch!" sagte sie mitfühlend.
Oh, da hatte seine Verzweiflung wohl doch echt geklungen? Aber eigentlich hatte er jetzt keinen Sinn mehr für ihre tröstenden Worte, also drehte er sich auf dem Absatz um und verließ ohne Abschied den Raum.
Schwester Heidi zuckte verständnislos die Achseln, öffnete das Wärmebettchen, nahm das Baby vorsichtig auf den Arm. Sie spürte es kaum. Laura wog an diesem Tag knapp zwei Kilogramm.
Friede, Freude, Weihnachtskuchen?
Sven Stiller war tatsächlich noch viele Male in Berlin, hatte hilflos vor seiner Tochter gestanden, sich auch Mühe gegeben, so etwas wie Liebe für sie zu empfinden. Aber was sollte er mit dem kleinen Ding anfangen?
Dafür hätte er es bei Schwester Heidis Rundungen um so besser gewusst, doch sie hatte schon seinen ersten Annäherungsversuch im Keim erstickt.
Na und, hatte er gedacht, Berlin ist eine riesige Stadt, da gibt es noch andere Heidis. So hatte er auch, als Anne schon längst wieder aus dem Krankenhaus entlassen worden war, die Hauptstadt sehr oft besucht.
Anne war ganz gerührt über so viel Vaterliebe, bedauerte, dass sie selbst nicht mehr mitfahren konnte, um ihre Tochter zu besuchen.
Sie war ja selbst zu Hause kaum noch imstande, etwas Wichtiges zu tun. Sie fühlte sich oft so schwach, dass sie nicht einmal die leichten Hausarbeiten bewältigen konnte.
Inzwischen war es Dezember geworden. Draußen war alles von ein er leichten Schneedecke eingehüllt. Ein kalter Wind pfiff ums Haus, und Anne war froh, wenn sie nicht nach draußen musste.
Eine Woche vor Weihnachten kamen Svens Eltern nach Wiesenberg, um ihrer Schwiegertochter die Vorbereitungen auf das Fest abzunehmen.
Schwiegermutter Margot wirbelte trotz ihrer Fülle behände durchs Haus, putzte und scheuerte alles blitzblank.
Ganz nebenbei wurden sogar noch Plätzchen und Kuchen gebacken, so dass es bald im ganzen Haus weihnachtlich roch.
Der Duft stieg auch Anne, die sich meist im Obergeschoß aufhielt, in die Nase und erinnerte sie an die Weihnachtsvorbereitungen von früher, an
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