Stille(r)s Schicksal
muss ich die Decken putzen. Den ganzen Tag über dem Kopf zu arbeiten, ist keine Kleinigkeit, weißt du. Ich spüre jeden Muskel und jeden Knochen einzeln."
Er stöhnte und streckte sich, dass sie seine Gelenke knacken hörte.
Anne nickte verständnisvoll und wiederholte wie beiläufig seine Frage: "Was ich dir erzählen wollte? Ach, nichts weiter, war nicht so wichtig. Räumst du ab?"
Sie war schon aufgestanden, hatte sich einen Halt an der Wand gesucht, um ohne Hilfe zurück ins Wohnzimmer gehen zu können.
In der Küche war das Feuer ausgegangen und Anne fröstelte. Im Wohnzimmer lief der Fernseher, der erste Abendfilm hatte bereits angefangen. Anne ahnte schon, dass sie auch heute wieder allein hier sitzen würde. Sven würde noch die Küche notdürftig in Ordnung bringen, dann Holz und Kohlen aus dem Schuppen holen und in allen heizbaren Zimmern verteilen.
Da ertönte vom Flur aus seine gewohnte Frage: „Anne, ich gehe noch ein bisschen in den Keller, brauchst du noch etwas?"
Und sie antwortete auch heute wieder: "Nein danke, ich brauche nichts, geh nur."
Dass er im Keller nur an irgendwelchen Modellen herumbasteln würde, wie er ihr erzählt hatte, glaubte sie schon seit einiger Zeit nicht mehr.
Meist war sie schon im Bett, wenn er nach oben kam. Oft stellte sie sich schlafend, weil sie nicht mehr wusste, worüber sie hätte mit ihrem Mann reden sollen.
Wenn Sven sah, dass ihre die Augen fest geschlossen waren, hatte sie ihn manchmal schon erleichtert flüstern hören: „Bloß gut, sie schläft. . .“
Sein seltsames Kichern und sein Geruch verrieten ihr, dass er sich wieder
ein
Schnäpschen genehmigt
hatte, wie er das manchmal nannte.
Meist waren es aber offenbar viele, denn immer öfter kam es vor, dass er sich schwer neben sie auf die Matratze fallen ließ, ohne sich vorher auszuziehen oder zu waschen.
So auch heute. Wenig später schnarchte er rasselnd und verbreitete um sich herum eine Wolke von Alkohol.
Inzwischen hatte Anne auch begriffen, dass es nichts nützte, ihm deshalb Vorwürfe zu machen. Zu oft hatte sie es schon versucht, hatte an seine Versprechungen geglaubt, die er dann doch so oft nicht eingehalten hatte.
Noch stundenlang wälzte sie sich hellwach in ihrem Bett hin und her, bevor sie der Schlaf gegen Morgen übermannte.
Wenn Laura erst bei uns ist …
Die Tage und Nächte verliefen in einem fast gespenstischen Gleichmaß. Das machte Anne ebenso zu schaffen wie ihre immer erfolgloseren Bemühungen, wenigstens ihren Alltag einigermaßen zu meistern.
Sven schaffte es offenbar auch nicht mehr, nach Feierabend noch alles in Ordnung zu bringen, so dass letztendlich immer mehr Arbeit liegenblieb. In der Küche türmte sich seit Wochen die Bügelwäsche im Korb, in einer Ecke stapelten sich Büchsen, Flaschen und Zeitungen. Überall lagen Svens Sachen herum. Doch Anne wollte nicht auch noch seine Socken und Hosen wegräumen. Aber wenn sie ihn bat, doch etwas mehr auf Ordnung zu achten, bekam sie fast immer dieselbe gereizte Antwort: "Ich werde das schon noch machen!"
Aber wann, dachte sie im stillen, schwieg aber.
Richtige Gespräche kamen kaum noch zustande. Frühmorgens, wenn der Wecker klingelte, weil Sven zur Arbeit musste, schlief Anne noch. Und abends war Sven immer müde und kaputt, verzog sich nach seinem obligatorischen Nickerchen im Sessel und nach dem gemeinsamen Abendessen (wenigstens das fand noch statt) in seinen Keller.
An den Wochenenden fuhr er, meist allein, nach Berlin. Um Laura zu besuchen, wie er sagte. Manchmal kam er tatsächlich etwas fröhlicher zurück und Anne führte seine bessere Laune auf die Freude über ihre Tochter zurück. Zweimal war sie schon mit in der Klinik gewesen und hatte beim ersten Anblick von Laura vor Freude geweint.
Natürlich war ihr klar, dass sie eigentlich zu schwach war für solche Reisen. Aber das tat ihrer Freude keinen Abbruch und es hinderte sie auch nicht an einem zweiten Besuch bei ihrem Töchterchen.
Doch ein drittes Mal gab es nicht, Sven hatte sich eines Tages einfach geweigert sie noch einmal mitzunehmen.
„ Denkst du, ich trage dich wieder die ganze Zeit?“ hatte er gemurrt, und Anne hatte sich widerstrebend gefügt. Doch jedesmal, wenn er heimkam und davon erzählte, wie gut es Laura ging, blühte auch Anne wieder sichtlich auf.
Trotzdem: Die Nachricht von Lauras Entlassung aus der Klinik kam für beide völlig überraschend. Sie waren ja nicht einmal imstande, sich richtig zu freuen, als die Postfrau
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