Stille(r)s Schicksal
unterbrechen, denn solange er mit ihr sprach - und dazu noch fröhlich und entspannt - solange würde er sich auch nicht in seinen Keller verkriechen und an der Schnapsflasche hängen.
So plätscherte ihr Gespräch ein wenig oberflächlich dahin, als hätten sich gerade erst kennengelernt. Anne dachte wehmütig an ihre gemeinsame Zeit auf Teneriffa zurück, daran hatte wohl der Bauernwein, auch, wenn es diesmal kein spanischer war, keinen geringen Anteil. Die Aussicht, nie wieder so einen unbeschwerten Urlaub wie damals erleben zu können, kümmerte sie im Moment recht wenig. Sie war so ausgefüllt mit der Freude auf ihre Tochter, dass kein anderes Gefühl mehr in ihr Platz zu finden schien. Endlich würden sie alle wie eine richtige kleine Familie unter einem Dach vereint sein.
Diese Aussichten beflügelten sie so sehr, dass sie sogar in Windeseile den Abwasch bewältigte. Sven staunte und griff freiwillig zum Geschirrtuch, und er räumte das Geschirr in den Schrank, bevor ihn Anne dazu aufforderte.
Danach ließen sie sich noch im Wohnzimmer gemütlich nieder. Draußen vor dem Fenster wirbelte der Sturm dicke Schneeflocken durcheinander.
„ Das richtige Wetter zum Fernsehen", meinte Sven lakonisch und kuschelte sich in seine Sofaecke.
Schon griff er nach der Fernsehzeitung.
„ Wollen wir nicht lieber ein bisschen spielen?“ bat Anne und legte ihre Hand auf seinen Arm.
Sven ließ die Zeitung sinken, stand auf und holte die Spielesammlung aus dem Schrank, wenn auch ein bisschen widerwillig. Er hätte mehr Lust auf andere Spiele gehabt, aber das ließ Annes Zustand wohl nun doch nicht mehr zu.
Schließlich waren beide so vertieft in ihr Spiel, dass sie völlig vergaßen, den Fernseher einzuschalten.
Darüber freute sich Anne natürlich, doch noch viel mehr darüber, dass Sven diesen Abend mit ihr und nicht mit sich selbst in seinem Keller verbracht hat.
Anne musste an die Postfrau denken. Sie hatte ihr mit dem Telegramm und der guten Nachricht so viel Freude geschenkt, dass sie den Gedanken an ihren möglicherweise nahen Tod einfach beiseite schieben konnte.
Laura war ja erst ein paar Monate alt, sie brauchte ihre Mama unbedingt. Deshalb beschloss Anne an diesem Abend, dem Krebs noch einmal mit ganzer Kraft zu trotzen. Sie wollte ihrer Tochter noch so viel wie möglich zeigen, zum Beispiel, wie wunderschön eine Blüte am Kirschbaum sein konnte.
Wieder einmal fand sie es schade, dass vielen, vor allem gesunden Menschen, gar nicht so richtig bewusst zu sein schien, wie wunderbar dieses bisschen Leben doch eigentlich ist.
Nun fiel ihr Blick auf den kräftigen langen Stiel der Amaryllis auf dem Fensterbrett. Die Blüten zeigten sich in ihrem feurigsten Rot, das nur ganz leicht von zarten weißen Streifen durchzogen war. Die vier großen, schweren Blüten ließen Annes Herz vor Freude schneller schlagen. Sven war ihrem Blick gefolgt.
"Schön, die Amaryllis, nicht?", schien er ihre Gedanken zu erraten.
"Ja, ich bewundere sie jeden Tag. Sie blüht, als wollte sie uns sagen, wie schön dieses Leben sein kann.“
Sven mochte es nicht, wenn Anne so philosophierte. Er fand die Blütenpracht einfach schön, ohne sich darum weitere Gedanken zu machen. So wie er das zierliche, blonde Mädchen Anne während des Urlaubs auf Teneriffa einfach schön gefunden hatte.
Die Frau jedoch, seine Frau, die sich jetzt wohlig im Sessel räkelte, hatte mit jener Anne von damals nur noch wenig gemeinsam. Sie war so dünn geworden, dass er sich nicht mehr getraute, sie anzufassen. Die Haut war aschfahl, durchscheinend und voller Flecken. Über den Wangenknochen schien sie sich wie Pergament zu spannen. Die Augen waren dunkel umschattet und lagen so tief in ihren Höhlen, dass ihn die Ähnlichkeit mit einem Totenschädel erschreckte.
Doch sobald sie lächelte, kam der alte Glanz für Sekunden zurück. In solchen Momenten erkannte Sven seine Anne von damals wieder und jene tiefe Zärtlichkeit, die er nie zuvor kennengelernt hatte, war für diese kurzen Augenblicke wieder da. Dann wünschte er sich nichts sehnlicher, als dass er aufwachen möge - und der Alptraum Krebs wäre vorbei. Natürlich wusste er im Innersten, dass diese Krankheit in Wahrheit kein Traum, sondern bittere Realität war.
Morgen würde er Laura holen! Seine Tochter. Sie war zwar in Teneriffa gezeugt worden, aber jetzt gehörte sie unweigerlich zu ihrem gemeinsamen Leben hier - oder dem, was davon übrig geblieben war.
Wieder schaute er Anne von der Seite an,
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