Stille(r)s Schicksal
anderen aus der Redaktion hatten sie wohl schon ganz und gar abgeschrieben. Wenn Anne nicht manchmal von der Zelle aus angerufen hätte, wer weiß.
Trotzdem: die Wiedersehensfreude war echt, auf beiden Seiten.
Dieter schnaubte, ob sie ihn nicht hereinbitten wolle, Anne wurde peinlich bewusst, dass sie ihren ehemaligen Kollegen noch immer wortlos anstarrte.
„ Hey, was guckst du so, ich bin es doch!"
Anne stand tatsächlich da wie erstarrt, Dieter glaubte, schon irgendwie zu verstehen, dass sie sauer war, sie fühlte sich bestimmt von allen vergessen. Aber das war eigentlich gar nicht so. Sie sprachen schon manchmal von Anne. Aber es gab so viel zu tun, und Telefon hatte sie hier wohl immer noch nicht. Bestimmt gab es hier nicht einmal ein Mobilfunknetz.
Dieter versuchte, Anne alles zu erklären und wusste doch, dass es sich dabei nur um Ausflüchte handelte.
„ Dieter, hör schon auf, ist doch jetzt alles nicht wichtig, ich freue mich doch, dass du da bist“, stammelte Anne, setzte sich langsam in Bewegung, bat ihn, die Tür zu schließen und ihr zu folgen. Ihm fiel ein Stein vom Herzen.
Langsam überwand sie das Gefühl der Fremdheit, indem sie an ihre gemeinsame Fahrt nach Dresden dachte, an das liebenswerte Chaos in seinem Auto, die Handpuppen, die seiner kleinen Tochter gehörten. Ob er wohl nach Laura fragen würde?
„ Ist Laura in der Kindertagesstätte?“
Sie drehte sich um, froh, dass die alte Vertrautheit sich anschickte, wieder aus der Versenkung zu kommen. Sie freute sich über seine Frage.
„ Nein“, sagte sie lächelnd, „wir haben eine Tagespflegestelle, Sven bringt sie morgens hin, abends holt er sie wieder ab.“
„ Hier, das ist für Laura“, schon hatte er ein Päckchen aus der Jackentasche gezogen. Ein bisschen unbeholfen zauberte er auch einen Strauß Narzissen hinter seinem gedrungenen Rücken hervor.
„ Für mich?" Anne guckte ihn groß an. Da war er also, der Frühling, nach dem sie sich so gesehnt hatte!
Dieter fasste sich an den Kopf.
"Für wen denn sonst?"
Ohne weitere Umschweife drückte ihr die Blumen samt Papier in die Hand.
Noch immer charmant wie ein Pferd
, dachte sie, und bat ihn, mit ihr Tee zu trinken.
„ Tee?" überlegte er laut, als gäbe es da noch etwas zu überlegen. In der Kita gab es heute ein Fest, da kam es gewiss auf ein paar Minuten nicht an.
„ Klar“, stimmte er also zu, „ich brühe ihn sogar auf, wenn du willst."
Schon zwängte er sich an Anne vorbei in die Küche. Die Kranke schlich, mehr als dass sie ging, an den Wänden Halt suchend, durch den Flur. Das Ziehen in ihrem Bauch strafte ihre heutige Eintragung Lügen. Von wegen keine Schmerzen! Sie würde nachher, wenn ihr Besuch gegangen war, ihre letzte Notiz ändern müssen.
"Na, was ist los, du hast schon lange nicht mehr angerufen?"
Seine mehr oder weniger mürrischen Frage tat ihr gut, denn sie spürte, dass er noch immer der Alte war, sich nicht verändert hatte wie Sven. Aber daran wollte sie jetzt nicht denken.
„ Ach, es ist doch ganz schön weit bis zur Telefonzelle, und ein eigenes Telefon haben wir leider noch immer nicht."
Anne bemühte sich, ihre Worte nicht wie eine Klage klingen zu lassen. Sie strich ihren Rock glatt und setzte sich vorsichtig auf die Eckbank. Ein wenig belustigt schaute sie zu, wie Dieter, ohne auch nur ein einziges Mal zu fragen, wo sich was befand, Gläser, Untersetzer und Kandis für den Tee zusammensuchte. Er hatte offenbar keine Mühe, sich in der fremden Küche zurechtzufinden.
"Willst du Milch?" fragte er und ging auf den Kühlschrank zu.
"Ja", sagte Anne, "aber, die ist im Keller.“
Beiläufig erwähnte sie, dass es Sven heute morgen wieder sehr eilig gehabt habe. „Und ich habe keine Lust mehr, die vielen Stufen bis hinunter und wieder nach oben zu klettern."
Es sollte ein bisschen obenhin klingen. Doch er ließ sich nicht täuschen. Nicht die Lust fehlte ihr, die Stufen zu bewältigen, sondern wohl eher die Kraft.
„ Schon in Ordnung, ich gehe schon, das ist doch die Brettertür vom Flur aus, nicht wahr?" vergewisserte er sich.
„ Ja, genau die“, rief sie ihm nach. Seine raue, aber herzliche Umsicht tat ihr gut.
Dieter kam ohne Milch in die Küche zurück und schaute Anne besorgt an.
„ Sag mal, der Sven, also ähm, ich meine, dein Mann, verkraftet der eure - ähm - Situation eigentlich so - ähm -ohne weiteres?"
Der Zusammenhang mit der Milch war für Anne nicht gleich erkennbar. Dieter hatte auch wieder gestottert. Sie
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