Stilles Echo
zu stürzen, wenn er scheiterte.
Er stieß den Atem aus und versuchte es noch einmal. Sein Mund formte Silben, aber sie konnte keine Worte erkennen. Seine Kehle verkrampfte sich. Rhys sah Hester mit verzweifelter Eindringlichkeit an.
Sie legte ihm eine Hand auf den Arm, oberhalb der Verbände.
»Hat es etwas mit Duke Kynaston zu tun?« fragte sie.
Er zögerte nur einen Moment lang, dann schüttelte er den Kopf, Einsamkeit und Verwirrung in den Augen. Es gab etwas, das er ihr unbedingt erzählen wollte, und je heftiger er es versuchte, desto schlimmer wurde seine Hilflosigkeit.
Hester konnte nicht einfach gehen. Sie mußte versuchen, es zu erraten, sie mußte das Risiko eingehen, trotz allem, was Dr. Wade gesagt hatte. Seine Ohnmacht war eine zu große Qual für ihn.
»Hat es mit der Nacht zu tun, in der Sie verletzt wurden?« Ganz langsam nickte er, als sei er sich nun nicht mehr sicher , ob er weitermachen wollte oder nicht.
»Wissen Sie, was passiert ist?« fragte sie sehr leise.
Seine Augen füllten sich mit Tränen, er wandte den Kopf von ihr ab und riß den Arm weg, auf dem noch immer ihre Hand gelegen hatte.
Sollte sie ihm eine direkte Frage stellen? Welchen Schaden konnte sie ihm damit zufügen? Wenn sie ihn zwang, sich zu erinnern und ihr zu antworten, konnte sie damit den heftigen Schock auslösen, vor dem Dr. Wade sie gewarnt hatte? Und wenn ja, konnte sie den Schaden, den sie anrichtete, irgendwie wiedergutmachen?
Rhys wandte ihr immer noch den Rücken zu und lag vollkommen reglos da. Sie konnte sein Gesicht nicht mehr sehen, um zu erahnen, was in ihm vorging.
Dr. Wade hatte ihn sehr gern. Wade war kein weicher oder feiger Mann. Dafür hatte er selbst zu viel Leiden gesehen, hatte Gefahren und Härten durchgestanden. Er bewunderte den Mut und die innere Kraft, die zum Überleben gehörten. Ihre Einschätzung dieses Mannes beantwortete ihre Frage. Sie mußte sich an seine Anweisungen halten, die im übrigen vollkommen unmißverständliche Befehle gewesen waren.
»Möchten Sie mir irgend etwas erzählen?« fragte sie.
Er drehte sich langsam wieder zu ihr um. Seine Augen glänzten und waren voller Verletzung. Er schüttelte den Kopf.
»Sie würden nur gern wieder reden können?«
Er nickte.
»Möchten Sie lieber allein sein?« Er schüttelte den Kopf.
»Soll ich bleiben?« Er nickte.
Am folgenden Abend kam Fidelis Kynaston noch einmal zu Besuch, wie sie es versprochen hatte, Sylvestra hatte Hester gedrängt, sich abermals den Abend freizunehmen und zu tun, wonach ihr der Sinn stand, vielleicht zu Freunden zu gehen. Hester hatte den Vorschlag mit Freuden angenommen, vor allem weil Oliver Rathbone wieder angefragt hatte, ob sie Lust hätte, mit ihm ins Theater zu gehen und anschließend zu speisen.
Als Rathbone sie abholte, durchwogte sie die Freude, ihn zu sehen. Ihr Pulsschlag beschleunigte sich, als sie sich an ihren letzten Abschied erinnerte, an seine Lippen, die über ihre streiften.
»Guten Abend, Oliver«, sagte sie atemlos, als sie durch die Halle auf ihn zulief, wo er nur wenige Schritte von dem überraschten Butler entfernt stand. Rathbone erwiderte ihr Lächeln, begrüßte sie mit einigen höflichen Nettigkeiten und führte sie dann zu dem wartenden Hansom.
Der Abend war kalt, aber recht trocken, und ausnahmsweise herrschte einmal kein Nebel. Man hatte einen klaren Blick auf den dreiviertelvollen Mond über den Dächern. Während der Fahrt unterhielten sie sich unbefangen über vollkommen nichtige Angelegenheiten, das Wetter, politische Gerüchte und Neuigkeiten aus dem Ausland, bis sie beim Theater ankamen und ausstiegen. Rathbone hatte ein Stück voller Witz und Humor ausgewählt, eher geeignet für einen gesellschaftlichen Anlaß als etwas, das den Geist forderte oder die Gefühle aufwühlte.
Sie betraten das Theater und wurden unverzüglich von einer Woge aus Farben und Licht verschlungen. Überall um sie herum plauderte und lachte man, Frauen in gewaltigen, raschelnden Röcken rauschten an ihnen vorbei, um voller Eifer alte Bekannte zu begrüßen oder neue Bekanntschaften zu suchen.
Es war die Art von gesellschaftlichem Leben, wie Hester es gekannt hatte, bevor sie auf die Krim gegangen war. Damals hatte sie noch im Hause ihres Vaters gelebt, und alle gingen selbstverständlich davon aus, daß sie einen akzeptablen jungen Mann kennenlernen und heiraten würde. Ihre Familie hoffte, daß dieses Ereignis in einem, höchstens zwei Jahren eintreten würde. Diese Dinge lagen
Weitere Kostenlose Bücher