Stilles Echo
hatte. Er hatte ihr nur erzählt, daß Rhys Duff unter schweren Verletzungen litt, sowohl innerlichen als auch äußerlichen. Er befände sich in einem Zustand ernsthaftesten Schocks und hätte seit dem Unfall kein Wort gesprochen. Hester sollte nicht versuchen, ihm irgendwelche Reaktionen zu entlocken, es sei denn, sie betrafen seine Wünsche bezüglich seiner Bequemlichkeit. Ihre Aufgabe bestand darin, seinen Schmerz soweit als möglich zu lindern und die Verbände an seinen geringfügigeren äußerlichen Wunden zu wechseln. Dr. Wade selbst würde sich um die schwerwiegenderen Verletzungen kümmern. Hester sollte den jungen Mann sauber und warmhalten und die Speisen für ihn zubereiten, die er zu sich zu nehmen bereit war. Sie mußten natürlich alle mild und nahrhaft sein.
Außerdem sollte sie sein Zimmer in Ordnung halten und ihm vorlesen, falls er einen entsprechenden Wunsch äußerte. Die Auswahl des Lesematerials sollte mit großer Behutsamkeit getroffen werden. Nichts, was seine Gefühle oder seinen Intellekt in Aufruhr bringen konnte, und nichts, was ihn erregen oder seine Ruhe beeinträchtigen würde. Soweit er überhaupt in der Lage war, Ruhe zu finden. Nach Hesters Meinung schloß das so ziemlich alles aus, was den Zeitaufwand oder die Mühe des Vorlesens gerechtfertigt hätte. Wenn es weder den Intellekt noch die Gefühle oder die Phantasie anregte, welchen Sinn sollte es dann haben? Sollte sie ihm den Eisenbahnfahrplan vorlesen?
Aber sie hatte lediglich genickt und sich folgsam gezeigt.
Als Sylvestra Duff den Raum betrat, war Hester einen Augenblick lang absolut überrascht. Hester hatte sich zwar kein Bild von ihr gemacht, aber nun wurde ihr klar, daß sie nach Dr. Wades Vorschriften für Rhys eine kraftlose Person erwartet hätte. Sylvestra war alles andere als kraftlos. Sie war auf eine sehr natürliche Weise ganz in Schwarz gekleidet, aber durch ihre Größe, ihre sehr schlanke Gestalt und ihren dunklen Teint wirkte es zugleich dramatisch und überaus schmeichelhaft. Sie war immer noch bleich nach dem Schock, den sie erlitten hatte, und bewegte sich, als müsse sie vorsichtig sein, damit sie in ihrer Benommenheit nicht irgendwo anstieß. Aber sie besaß große Würde und zeigte eine Haltung, die Hester nur bewundern konnte. Hesters erster Eindruck von Sylvestra Duff war ausgesprochen positiv.
Sie stand unverzüglich auf. »Guten Morgen, Mrs. Duff. Ich bin Hester Latterly, die Krankenschwester, die Dr. Wade in Ihrem Auftrag eingestellt hat. Ich soll mich während seiner Rekonvaleszenz um Ihren Sohn kümmern.«
»Guten Tag, Miss Latterly.« Sylvestra sprach leise und ziemlich langsam, als wäge sie jedes ihrer Worte sorgfältig ab, bevor sie es aussprach. »Ich danke Ihnen, daß Sie kommen konnten. Sie haben gewiß schon viele junge Männer gepflegt, die schwer verletzt waren.«
»Ja, das ist richtig.« Hester überlegte, ob sie noch hinzufügen sollte, daß sehr viele von ihnen sich überraschend gut erholt hatten, und das unter den schlimmsten Umständen. Dann aber sah sie die Gefaßtheit in Sylvestras Augen und kam zu dem Schluß, daß es eine oberflächliche Bemerkung wäre und sich anhören würde, als wolle sie die Wahrheit herunterspielen. Und sie hatte Rhys Duff noch nicht gesehen, konnte sich noch kein Urteil über seinen Zustand erlauben. Dr. Rileys abgehärmtes Gesicht, sein ängstlicher Blick und sein ausdrücklicher Wunsch, über die Fortschritte des Jungen auf dem laufenden gehalten zu werden, verrieten seine Sorge, daß Rhys sich nur langsam, wenn überhaupt, erholen würde. Überdies hatte Dr. Wade, als er sie einstellte, ebenfalls den Eindruck erweckt, persönlich betroffen zu sein.
»Wir haben ein Zimmer für Sie hergerichtet, direkt neben dem meines Sohnes«, fuhr Sylvestra fort, »und wir haben eine Glocke so aufgestellt, daß er sie rufen kann, falls er sie braucht. Natürlich kann er die Glocke nicht läuten, aber er kann sie auf den Boden werfen, so daß Sie ihn hören werden.« Sylvestra dachte an die vielen praktischen Einzelheiten und sprach viel zu schnell, weil sie auf diese Weise ihren Kummer zu verbergen versuchte. »Die Küche wird Ihnen natürlich Ihre Mahlzeiten servieren, wann immer es Ihnen günstig erscheinen mag. Sie müssen der Köchin jeden Tag Bescheid sagen, was Ihrer Meinung nach das Beste für meinen Sohn ist. Ich hoffe, Sie werden sich hier wohl fühlen. Wenn Sie sonst noch irgend etwas benötigen, sagen Sie es mir bitte, und ich werde alles tun, was
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