Stilles Echo
Gesicht war über und über mit blauschwarzen Quetschungen übersät. An mehreren Stellen sah man noch den Schorf getrockneten Blutes. Sein Haar, das ebenso schwarz war wie das seiner Mutter, war auf der einen Seite gescheitelt und fiel ihm über die Stirn. Wegen der Entstellung durch seine Verletzungen und der Schmerzen, die er immer noch haben mußte, fiel es schwer, seine Miene zu deuten, aber der Ausdruck, mit dem er Hester ansah, schien Groll und Abneigung widerzuspiegeln.
Das überraschte sie nicht. Sie war ein Eindringling und seine Trauer tief und äußerst privat. Sie war eine Fremde, und doch würde er in seinen persönlichsten Bedürfnissen von ihr abhängig sein. Sie würde seinen Schmerz miterleben und doch nichts damit zu tun haben, sie würde kommen und gehen können, würde wahrnehmen und doch nicht teilhaben. Er war nicht der erste Patient, dem dies demütigend erschien, die gefühlsmäßige und körperliche Nacktheit vor einem anderen Menschen, der stets den Schutz seiner Kleidung besaß.
Sylvestra trat ans Bett, setzte sich aber nicht zu dem jungen Mann.
»Das ist Miss Latterly, die für dich sorgen wird, jetzt, da du wieder zu Hause bist. Sie wird die ganze Zeit bei dir sein oder in dem Zimmer weiter unten im Flur, wo sie die Glocke hören wird, wenn du sie brauchst. Sie wird alles in ihren Kräften Stehende tun, damit du es bequem hast, und sie wird dir helfen, wieder gesund zu werden.«
Er wandte den Kopf, um Hester mit nur einem Anflug von Neugier zu betrachten, in den sich immer noch so etwas wie Abneigung mischte.
»Guten, Tag, Mr. Duff«, sagte sie deutlich kühler, als sie ursprünglich beabsichtigt hatte. Sie hatte schon früher schwierige Patienten gepflegt, aber bei all ihrer Erfahrung war es immer noch ein beklemmendes Gefühl, wenn ein Mensch, mit dem sie instinktives Mitgefühl verspürte und mit dem sie die nächsten Wochen und Monate ständig und unter intimsten Umständen zusammen sein würde, ihr mit Ablehnung gegenübertrat.
Er blinzelte, erwiderte ihren Blick jedoch in völligem Schweigen. Was auch immer folgen mochte, der Anfang würde schwierig sein.
Sylvestra wirkte leicht verlegen. Sie wandte sich von Rhys ab und sah Hester an.
»Vielleicht sollte ich Ihnen jetzt Ihr Zimmer zeigen?«
»Das wäre sehr freundlich«, erwiderte Hester. Sie wollte sich ein einfacheres und praktischeres Kleid anziehen und allein noch einmal herkommen, um sich zu bemühen, mit Rhys Duff Bekanntschaft zu schließen. Und um zu erfahren, was sie tun konnte, um ihm zu helfen.
Ihr erster Abend im Hause der Duffs war merkwürdig und seltsam gewesen. Sie war immer wieder mit Menschen zusammen gewesen, die unter dem tiefen Eindruck von Gewalt, Trauer, ja sogar Verbrechen gestanden hatten. Sie hatte mit Menschen gelebt, die es ertragen mußten, daß Fremde in die privatesten und verletzlichsten Teile ihres Lebens eindrangen, um Ermittlungen durchzuführen. Sie hatte Menschen gekannt, deren furchtbare Erlebnisse zu Argwohn und Angst untereinander geführt hatten. Aber nie zuvor hatte sie einen Patienten gepflegt, der bei Bewußtsein war und doch nicht sprechen konnte. Es lag eine Stille über dem ganzen Haus, die ihr das Gefühl von tiefer Isolation gab. Sylvestra selbst war eine ruhige Frau, die nicht zu Gesprächigkeit neigte. Allein aus Geselligkeit, wie die meisten Frauen es taten, redete sie jedenfalls nicht.
Die Diener wirkten gedämpft, als sei ein Toter im Haus, und auch hier herrschte nicht das gewohnte schwatzhafte Geplapper.
Als Hester in Rhys’ Zimmer zurückkehrte, lag er auf dem Rücken und starrte mit weit aufgerissenen, reglosen Augen zur Decke hinauf. Es schien, als versuche er, sich mit aller Macht auf irgend etwas zu konzentrieren. Sie wußte nicht, ob sie ihn stören sollte. Also blickte sie einige Sekunden lang in den flackernden Feuerschein und prüfte dann, ob noch genug Kohlen für mehrere Stunden im Eimer waren. Dann betrachtete sie das kleine Bücherregal an der Wand neben ihr, um festzustellen, was der junge Mann vor dem Überfall gelesen hatte. Sie fand Bücher über verschiedene Länder, Afrika, Indien, den Fernen Osten und mindestens ein Dutzend über Reisen, Briefe und Memoiren von Entdeckern, Botanikern und Leuten, die die Gewohnheiten und Gebräuche anderer Kulturen studiert hatten. Dort stand auch ein großes, wunderschön eingebundenes Buch über die Kunst des Islam und daneben ein weiteres über die Geschichte von Byzanz. Ein anderes schien von den arabischen
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