Stilles Echo
Unbeweglichkeit dieser Männer, über die bisweilen so unnötigen und furchtbaren Opfer. Aber sie hatte nie aufgehört, sie zu bewundern, weder bei ihren nobelsten Bemühungen noch bei ihren nutzlosesten – oder beidem zugleich.
Sylvestra mußte eine Schwingung in ihrer Stimme aufgefallen sein, vielleicht die besondere Gefühlstiefe, mit der Hester geantwortet hatte. Sie drehte sich zu ihr um, und zum ersten Mal lächelte sie.
»Amalia ist ebenfalls in Indien, aber ihr Ehemann ist im Kolonialdienst. Sie hat großes Interesse an den Einheimischen.« Ihr Gesicht drückte Stolz aus und auch Erstaunen im Angesicht einer Lebensart, die sie sich kaum vorstellen konnte. »Sie hat Freunde unter den Frauen. Manchmal mache ich mir Sorgen, daß sie vielleicht zu impulsiv sein könnte. Ich fürchte, sie dringt in Bereiche ein, in denen Europäer nicht erwünscht sind. Sie glaubt, sie könne die Dinge zum Besseren wenden, wo sie in Wahrheit vielleicht nur Schaden stiftet. Ich habe ihr geschrieben und ihr meinen Rat gegeben, aber sie hat sich noch nie gut darauf verstanden, Ratschläge anzunehmen. Hugo ist ein netter junger Mann, aber zu beschäftigt mit seinen eigenen Angelegenheiten, um Amalia die erforderliche Aufmerksamkeit zu schenken, denke ich.«
Hester stellte sich einen ziemlich pedantischen Mann vor, der Papiere auf seinem Schreibtisch ordnete, während die temperamentvolle und abenteuerlustige Amalia verbotene Gebiete erkundete.
»Es tut mir leid, daß Ihre Töchter zu weit fort sind, um jetzt bei Ihnen zu sein«, sagte sie behutsam. Sie wußte, daß es Monate dauern würde, bis Briefe von Sylvestra mit der Nachricht vom Tod ihres Mannes das Kap der Guten Hoffnung umrundet und Indien erreicht hatten. Und es würden noch einmal Monate vergehen, bis die Antwortschreiben ihren Weg nach England fanden. Kein Wunder, daß Sylvestra furchtbar allein war.
Die Trauer war schon immer eine Zeit für Nähe innerhalb der Familie. Außenseiter fühlten sich wie Eindringlinge und wußten nicht, was sie sagen sollten, ganz gleich, wie tief und freundschaftlich sie den Betreffenden verbunden waren.
»Ja«, pflichtete Sylvestra ihr bei, und es war fast, als spreche sie mit sich selbst. »Ich gäbe viel um ihre Gesellschaft, vor allem was Amalia betrifft. Sie ist immer so… positiv.« Obwohl das Zimmer gut geheizt war und die schweren Vorhänge vor den Fenstern zugezogen waren, um den Regen und die Dunkelheit abzuhalten, schauderte sie ein wenig. Sie blickte auf das leere Teetablett, auf dem noch die Reste von Hörnchen und Butter lagen. »Ich weiß nicht, was ich erwarten soll. Wahrscheinlich wieder die Polizei. Noch mehr Fragen, auf die ich keine Antworten habe.«
Hester wußte es, aber es war gütiger, nichts zu erwidern. Man würde Antworten finden und häßliche Dinge enthüllen, und seien sie auch nur privater Natur und möglicherweise töricht oder schäbig. Die Entlarvung des Mannes, der Leighton Duff ermordet hatte, würde nicht notwendigerweise dazugehören.
Wieder nahm Rhys nur Rinderbrühe und ein wenig trockenen Toast zu sich. Hester las ihm eine Weile vor, und er schlief früh ein. Sie selbst löschte ihr Licht erst nach Mitternacht und erwachte in völliger Dunkelheit. Ein Gefühl des Entsetzens strich über sie hinweg wie ein eisiger Luftzug. Die Glocke war nicht zu Boden gefallen, aber sie sprang dennoch auf und lief in Rhys’ Zimmer.
Das Feuer brannte noch recht ordentlich, und die Flammen spendeten genügend Licht. Rhys saß, von Kissen gestützt, halb aufrecht im Bett. Seine Augen standen weit offen und waren von blindem, unaussprechlichem Entsetzen erfüllt. Schweiß lief ihm übers Gesicht. Er biß die Zähne zusammen und hatte dabei die Lippen geöffnet. Sein Adamsapfel hüpfte auf und ab, und er schien bis auf das Keuchen zwischen zwei lautlosen Schreien kaum in der Lage zu sein, Atem zu schöpfen. Die geschienten Hände hatte er vor sein Gesicht geschlagen, um das Grauen abzuwehren, das er im Geiste vor sich sah.
»Rhys!« rief sie und eilte hastig an sein Bett.
Er hörte sie nicht. Er war eingeschlossen in einer schrecklichen, nur ihm selbst zugänglichen Welt.
»Rhys!« wiederholte sie noch lauter. »Wachen Sie auf! Wachen Sie auf – Sie sind zu Hause, in Sicherheit!«
Sein Mund zuckte immer noch, um die angsterfüllten Schreie zu formen, die seinen Körper erschütterten. Er konnte Hester weder sehen noch hören; er befand sich in einer schmalen Gasse irgendwo in St. Giles, wo er Schmerz und
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