Stilles Echo
das. Er ist ein stolzer Mann, jung, empfindsam. Ich muß seine Verletzungen versorgen, Verbände erneuern.«
»Natürlich. Wenn ich Ihnen irgendwie behilflich sein kann, brauchen Sie nur zu läuten.«
»Vielen Dank, Miss Latterly. Vielen Dank.«
Am Nachmittag ließ Hester Ryhs allein, damit er sich ausruhen konnte, und sie verbrachte ein wenig Zeit mit Sylvestra im Salon. Wie überall im Haus standen auch dort zu viele Möbel, aber der Raum war warm und überraschend behaglich.
Sylvestra erkundigte sich nach Rhys, aber eher, um Konversation zu machen. Sie hatte ihn tagsüber zweimal besucht und war beim zweiten Mal eine qualvolle halbe Stunde lang geblieben, in der sie mühsam ein Gespräch mit ihm zu führen versucht hatte. Sie hatte an glückliche Zeiten in der fernen Vergangenheit erinnert, als er noch ein Kind gewesen war, und sie schien ihm versprechen zu wollen, daß es solchen Frieden und solche Freude auch in Zukunft für ihn geben würde. Leighton Duff hatte sie mit keinem Wort erwähnt. Vielleicht war das nur natürlich. Der Schock und der Schmerz über seinen Tod waren noch viel zu frisch, und sie wollte Rhys gewiß nicht daran erinnern.
Als das Gespräch zwischen den beiden Frauen stockte, sah Hester sich in dem Raum um und suchte nach etwas, mit dem sie die Unterhaltung wieder in Gang bringen konnte. Einmal mehr war sie nicht recht sicher, ob ihr Gegenüber ein Gespräch wünschte oder nicht. Sie war sich der schmerzlichen Isolation dieser Frau bewußt, die nur anderthalb Meter von ihr entfernt saß, mit einem höflichen Lächeln um die Mundwinkel und einem abwesenden Ausdruck in den Augen. Hester wußte nicht, ob es Einsamkeit war oder nur eine sehr persönliche Art der Trauer.
Inmitten der Gruppenfotos sah sie das Bild einer jungen Frau mit dunklen Augen, geraden Brauen und einer Nase, die zu kräftig war, um hübsch zu sein, aber sehr schönem Mund. Sie hatte eine unverkennbare Ähnlichkeit mit Rhys, und das Kleid, das sie trug und dessen Oberteil auf dem Bild deutlich zu sehen war, war sehr modisch und nicht älter als ein oder zwei Jahre.
»Was für ein interessantes Gesicht«, bemerkte sie in der Hoffnung, daß ihre Worte nicht an eine weitere Tragödie rührten.
Sylvestra lächelte, und in diesem Lächeln lag unverkennbarer Stolz.
»Das ist meine Tochter, Amalia.«
Hester fragte sich, wo sie wohl sein mochte und wie bald sie hier sein konnte, um ihrer Mutter zur Seite zu stehen. Gewiß konnte keine andere familiäre Pflicht wichtiger sein als diese.
Die Antwort kam unverzüglich, und wieder schwangen Stolz und der Schatten der Verwirrung in Sylvestras Stimme mit.
»Sie ist in Indien. Meine beiden Töchter sind dort. Constance ist mit einem Hauptmann der Armee verheiratet. Sie hat vor drei Jahren, während des Aufstands, eine furchtbare Zeit durchgemacht. Sie schreibt häufig und erzählt uns von dem Leben dort.« Sylvestra sah nicht Hester an, sondern schaute in die tanzenden Flammen im Kamin. »Sie sagt, die Dinge würden nie wieder sein wie früher. Sie hat das Land geliebt, auch wenn es für viele der Ehefrauen dort unerträglich langweilig war. Die Frauen haben die Zeit der Sommerhitze dort immer im Bergland verbracht, wußten Sie das?« Es war eine rhetorische Frage. Sie erwartete nicht, daß Hester von diesen Dingen Kenntnis hatte. Es war ihr entfallen, daß sie eine Armeekrankenschwester vor sich hatte, aber vielleicht begriff sie auch einfach nicht, was das wirklich bedeutete. Es war eine andere Welt, die sich von ihrer kraß unterschied.
»Sie können sich nie wieder so ungezwungen fühlen. Es hat sich alles verändert«, fuhr sie fort. »Die Gewalttätigkeiten waren unvorstellbar, die Folterungen, die Massaker.« Sie schüttelte den Kopf. »Aber nach Hause kommen können sie natürlich nicht. Es ist ihre Pflicht, dort zu bleiben.« Sie sagte dies ohne Bitterkeit und ohne den leisesten Groll. Pflicht war eine Stärke und ein Daseinsgrund.
»Ich verstehe«, erwiderte Hester hastig. Ihre Gedanken flogen wieder zu den Offizieren, die sie auf der Krim gekannt hatte. Männer, denen die Pflicht so selbstverständlich war wie das Atmen. Wie hoch der Preis auch sein mochte, den sie selbst zu zahlen hatten oder das ganze Volk, und selbst wenn es schmerzlich oder lächerlich war, nie wäre es ihnen eingefallen, etwas anderes zu tun als das, was von ihnen erwartet wurde. Bisweilen hätte Hester sie am liebsten angeschrien oder nach ihnen geschlagen, einfach aus Verzweiflung über die
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