Stilles Echo
Stoff ihrer Anzüge gefühlt? War das Tuch von guter Qualität, oder war der Stoff wiederverarbeitet worden? Dick oder dünn?«
»Warm«, sagte sie ohne zu zögern und weil sie an das einzige dachte, was für sie von Bedeutung gewesen wäre. »Gegen so einen Mantel hätte ich selber nichts einzuwenden. Kostet mehr, als ich in einem Monat verdiene, eine Menge mehr.«
»Waren sie glatt rasiert, oder trugen sie einen Bart?«
»Ich habe nicht hingesehen!«
»Du mußt es aber gespürt haben. Du mußt ihre Gesichter gespürt haben. Denk nach!«
»Kein Bart. Glatt rasiert… denk ich. Vielleicht Koteletten.« Sie stieß einen Laut der Verachtung aus. »Gibt Tausende von Männern, die so aussehen!« Ihre Stimme klang rauh und desillusioniert, als hätte sie einen Augenblick lang wirklich Hoffnung geschöpft. »Sie werden die nicht finden, niemals. Sie sind ein Lügner, wenn Sie Mrs. Hopgoods Geld nehmen, und sie ist eine Närrin, Ihnen welches zu geben!«
»Paß du gut auf, was du sagst, Nellie West!« fuhr Vida sie scharf an. »Du bist nicht so klug, daß du allein zurechtkämst, daß du mir das mal nicht vergißt! Ich rate dir, höflich zu bleiben, wenn du weißt, was gut für dich ist.«
»Wie spät am Abend war es denn?« stellte Monk nun die letzte Frage, von deren Antwort er sich etwas erhoffte.
»Warum?« fragte sie höhnisch zurück. »Weil es dann nicht mehr so viele Verdächtige gibt, ja? Weil Sie dann wissen, wer’s war, wie?«
»Es könnte mir weiterhelfen, ja. Aber wenn du diese Leute lieber schützen willst, werden wir unsere Fragen anderswo stellen. Wenn ich recht verstanden habe, bist du nicht die einzige Frau, die geschlagen wurde.«
Er wandte sich zur Tür, ohne darauf zu warten, daß Vida die Initiative ergriff. Monk hörte noch, wie sie Nellie bedachtsam und boshaft beschimpfte, ohne sich zu wiederholen.
Die zweite Frau, zu der Vida ihn führte, war ganz anders. Sie trafen sie, als sie nach einem langen Tag in der Fabrik nach Hause trottete. Es schneite immer noch, obwohl die Pflastersteine zu naß waren, als daß der Schnee hätte liegenbleiben können. Diese Frau war vielleicht fünfunddreißig, auch wenn ihre Schultern so gebeugt waren, daß sie ebensogut hätte fünfzig sein können. Ihr Gesicht war aufgedunsen und ihre Haut bleich, aber sie hatte hübsche Augen und dichtes, natürlich gewelltes Haar. Mit ein klein wenig Lebensmut, ein klein wenig Lachen, wäre sie immer noch attraktiv gewesen. Als sie Vida erkannte, blieb sie stehen. Ihre Miene verriet weder Furcht noch Unfreundlichkeit. Es sprach sehr für Vidas Charakter, daß sie als Ehefrau des Fabrikbesitzers in einer solchen Frau immer noch ein gewisses Gefühl der Freundschaft wecken konnte.
»Hallo, Betty«, sagte Vida mit frischer Stimme. »Das hier ist Monk. Er wird uns bei diesen Mistkerlen helfen, die die Frauen hier in der Gegend zusammenschlagen.«
In Bettys Augen flackerte so etwas wie Hoffnung auf, aber der Eindruck war so flüchtig, daß Monk es sich auch nur eingebildet haben konnte.
»Ach ja?« fragte sie ohne großes Interesse. »Und wozu? Damit die Bullen sie verhaften und der Richter sie rauf nach Coldbath Fields schickt? Oder vielleicht wandern sie ja auch nach Newgate, wo der Strick auf sie wartet, hm?« Sie stieß ein trockenes, beinahe geräuschloses Lachen aus.
Vida hatte sich ihr angeschlossen und ging neben ihr her, so daß Monk einige Schritte zurückbleiben mußte. Sie bogen um eine Ecke und kamen an einer Spelunke vorbei, auf deren Türschwelle einige betrunkene Frauen saßen, die die Kälte schon nicht mehr wahrnahmen.
»Was macht Bert?« fragte Vida.
»Saufen«, antwortete Betty. »Was sonst?«
»Und die Kinder?«
»Billy hat Kehlkopfdiphtherie, und Maisie hustet sich die Seele aus dem Leib. Die anderen sind in Ordnung.« Betty streckte die Hand nach der Klinke ihrer Haustür aus und wollte sie gerade aufdrücken, als zwei kleine Jungen rufend und lachend aus der anderen Richtung die Gasse heruntergefegt kamen. Sie waren mit Stöcken bewaffnet, mit denen sie um sich schlugen, als seien es Schwerter. Einer der beiden machte einen Satz nach vorn, der andere schrie laut auf, ließ sich dann der Länge nach hinfallen und tat so, als stürbe er in Qualen; freudestrahlend wälzte er sich auf den feuchten Pflastersteinen. Der andere hüpfte auf und ab und schmetterte seinen Sieg heraus. Anscheinend war er gerade mit Siegen an der Reihe, und er hatte die Absicht, diese Wonne bis zur Neige
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