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Stilles Echo

Stilles Echo

Titel: Stilles Echo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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passiert? Um wieviel Uhr? Wurde irgend etwas gesprochen? Was war mit den Stimmen? Was hatten die Männer an? Wie fühlte sich der Stoff an, wie war es mit der Haut, waren sie bärtig oder rasiert? Wie rochen sie, waren sie betrunken oder nüchtern, rochen sie nach Salz, Tier, Fisch, Hanf, Ruß? Carrie sah ihn verständnislos an. All ihre Antworten bestätigten die anderen Geschichten, fügten ihnen aber nichts hinzu. Das einzige, woran die beiden sich deutlich erinnern konnten, waren der Schmerz und die entsetzliche Angst, der Geruch der nassen Straße, der offenen Kanalisation, das Gefühl der Pflastersteine, die sich in ihren Rücken bohrten, der grausame Schmerz, zuerst in ihren Leibern, dann außerhalb, als es Fausthiebe und Tritte hagelte. Danach hatten sie dann in der Dunkelheit dagelegen, während die Kälte sich in sie hineinfraß, und endlich waren da Stimmen gewesen, man hatte sie aufgehoben, und schließlich war langsam die Wahrnehmung und mit ihr der Schmerz zurückgekehrt.
    Jetzt hatten sie Hunger. Es war kaum noch etwas zu essen da, genausowenig wie Kohle oder auch nur Holz, und sie waren zu verängstigt, um sich aus dem Haus zu trauen. Aber schon bald würde die Zeit kommen, da ihnen nichts anderes mehr übrig blieb, wenn sie nicht verhungern wollten. Monk klopfte seine Taschen ab und legte zwei Münzen auf den Tisch. Er sagte nichts, sah aber, wie die Blicke der Kinder von diesen Münzen angezogen wurden.
    »Nun?« verlangte Vida zu wissen, als sie wieder draußen auf der Straße waren und sich mit gesenktem Kopf dem Wind entgegenstemmten. Auf den Steinen hatte sich eine dünne Eisschicht gebildet, über die sich nun Schnee breitete. Es sah unheimlich aus in dem fahlen Licht und warf den Widerschein der fernen Straßenlaternen zurück, bleiche, verschwommene Flecken vor dem Schwarz der Dächer und Mauern und dem dumpfen, lichtlosen Himmel. Der Boden unter ihren Füßen war glatt und gefährlich.
    Monk schob die Hände tiefer in seine Taschen und zog den Mantel fest um sich. Sein Körper war steif vor Zorn, und dieses Gefühl verschlimmerte die Kälte noch.
    »Zwei oder drei Männer schlagen und vergewaltigen Frauen, die auf den Strich gehen«, antwortete er verbittert. »Sie stammen nicht von hier, aber sie können ansonsten überall herkommen. Es sind keine Arbeiter, können aber Angestellte, Verkäufer, Geschäftsleute oder Gentlemen sein. Es können Soldaten auf Urlaub sein oder Seeleute, die Landgang haben. Es müssen nicht einmal unbedingt jedesmal dieselben Männer gewesen sein, obwohl das ziemlich wahrscheinlich ist.«
    »Na, das bringt uns ja nun wirklich ein Riesenstück weiter!« fauchte Vida ihn an. »Soviel wußten wir selber schon, verflucht! Ich bezahle Sie nicht, damit Sie mir erzählen, was ich mir selber zusammenknobeln kann! Ich dachte, Sie wären angeblich der beste Schnüffler, den es gibt! Zumindest haben Sie immer so getan, als wären Sie das!« Ihre Stimme klang schrill und scharf, und es lag nicht nur Abscheu darin, sondern auch Furcht. Furcht schien sie zu zerreißen. Sie hatte ihm vertraut, und er hatte sie im Stich gelassen. Sie hatte niemanden, an den sie sich sonst hätte wenden können.
    »Haben Sie erwartet, daß ich heute abend noch die Antwort finde?« fragte er sarkastisch. »Ein Abend, und ich soll Ihnen Namen oder Beweise liefern? Sie wollen keinen Detektiv, Sie wollen einen Zauberer.«
    Vida blieb stehen und sah ihn direkt an. Einen Augenblick lang war sie versucht, es ihm mit gleicher Münze heimzuzahlen. Es war ihr Instinkt, sich zur Wehr zu setzen. Dann holte die Wirklichkeit sie ein. Sie sackte ein wenig in sich zusammen. In dem trüben Licht und dem immer dichter fallenden Schnee konnte er nur ihre Umrisse erkennen. Sie waren zwanzig Meter von der nächsten Laterne entfernt.
    »Können Sie uns helfen oder nicht, Monk? Ich habe keine Zeit, Ihre Spielchen zu spielen.«
    Ein alter Mann, der einen Sack über der Schulter trug, schlurfte murmelnd an ihnen vorbei.
    »Ich glaube schon«, antwortete Monk ihr. »Diese Männer sind nicht aus dem Nichts hier erschienen. Sie müssen irgendwie hierhergekommen sein, wahrscheinlich mit einem Hansom. Sie müssen eine Weile herumgelungert haben, bevor sie diese Frauen überfielen. Vielleicht haben sie auch ein oder zwei Gläschen getrunken. Irgend jemand hat sie gesehen. Irgend jemand hat sie hergefahren und auch wieder zurückgebracht. Sie waren zu zweit oder zu dritt. Männer, die eine Frau suchen, tauchen gewöhnlich nicht

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