Stilles Echo
Sylvestras Stimme klang verzweifelt. »Ich kann der Polizei nicht helfen. Die einzigen Fragen, die diese Leute mir gestellt haben, waren vollkommen nutzlos. Was Leighton angehabt habe und wann er das Haus verlassen hat. Nichts von alledem wird sie weiterbringen!«
»Was könnte denn helfen?« Hester griff nach der Kanne, wobei sie taktvollerweise zuerst einen fragenden Blick auf Sylvestra warf. Als diese nickte, füllte sie beide Tassen wieder auf.
»Ich wünschte, ich wüßte es«, sagte Sylvestra kaum hörbar.
»Ich habe mir das Gehirn zermartert, um herauszufinden, was Leighton an einem solchen Ort getan haben könnte, und meine einzige Erklärung ist die, daß er Rhys nachgegangen ist. Er war … er war sehr wütend, als er das Haus verließ, viel wütender, als ich es diesem jungen Mann von der Polizei erzählt habe. Es erscheint mir so unloyal, mit Fremden über Familienstreitigkeiten zu sprechen.«
Hester wußte, daß sie weniger »Fremde« meinte als Leute aus einer anderen Gesellschaftsschicht, zu der Evan in ihren Augen gewiß rechnete. Sylvestra konnte nicht wissen, daß sein Vater Pfarrer war und daß er die Arbeit bei der Polizei aus einer tiefen Gerechtigkeitsliebe heraus gewählt hatte und nicht, weil sie seinem natürlichen Platz in der Gesellschaft entsprochen hätte.
»Natürlich«, pflichtete sie ihr bei. »Es ist immer schmerzlich, einen Streit einzugestehen, sogar sich selbst gegenüber, der nun nicht mehr wieder gutgemacht werden kann. Man muß diesen Zwischenfall im ganzen Zusammenhang der Beziehung sehen und ihn nur als einen kleinen Teil betrachten, der einzig durch eine unglückliche Fügung zum letzten Teil dieser Beziehung wurde. Wahrscheinlich war das Ganze viel unwichtiger, als es den Anschein hat. Hätte Mr. Duff weitergelebt, hätten Rhys und er ihre Differenzen gewiß beglichen.« Sie gab ihren letzten Worten einen schwachen fragenden Unterton.
Sylvestra nippte an ihrem frischen Tee. »Die beiden waren so verschieden. Rhys ist unser jüngstes Kind. Leighton meinte, ich verwöhne ihn. Vielleicht habe ich das wirklich getan? Ich hatte das Gefühl, ihn so gut verstehen zu können.« Ein schmerzlicher Ausdruck trat in ihre Züge. »Jetzt sieht es so aus, als hätte ich ihn überhaupt nicht verstanden. Und vielleicht hat mein Unvermögen meinen Mann das Leben gekostet.« Sie umfaßte die Tasse mit so festem Griff, daß Hester fürchtete, sie könne sie zerbrechen.
»Quälen Sie sich nicht mit diesem Gedanken, wenn Sie nicht glauben, daß es die Wahrheit ist!« entgegnete sie mit Nachdruck. »Vielleicht fällt Ihnen noch irgend etwas ein, das der Polizei bei der Frage helfen könnte, warum die beiden nach St. Giles gingen. Es könnte mit irgend etwas anderem zusammenhängen, das sich früher an jenem Abend ereignet hat. St. Giles ist ein schrecklicher Ort. Die beiden müssen einen sehr zwingenden Grund gehabt haben. Könnten sie wegen eines anderen Menschen dort hingegangen sein? Vielleicht wegen eines Freundes, der in Schwierigkeiten war?«
Sylvestra blickte hastig auf. Ihre Augen leuchteten. »Das würde einigermaßen vernünftig klingen, nicht wahr?«
»Ja. Wer sind Rhys’ Freunde? Wer könnte ihm wichtig genug sein, um an einen solchen Ort zu gehen und seine Hilfe anzubieten? Vielleicht hatte der Betreffende Geld geborgt. So etwas kommt vor. Eine Spielschuld, die er seiner Familie nicht einzugestehen wagte, oder ein Mädchen von zweifelhaftem Ruf.«
Sylvestra lächelte, und in diesem Lächeln lag Angst, aber auch eine gewisse Selbstbeherrschung. »Das klingt so, als könne es Rhys selbst passiert sein, fürchte ich. Er hatte die Neigung, respektable junge Damen ziemlich langweilig zu finden. Das war der Hauptgrund für den Streit mit seinem Vater. Er fand es ungerecht, daß Constance und Amalia nach Indien reisen und dort alle möglichen exotischen Erfahrungen machen konnten, während er zu Hause bleiben und studieren mußte, um schließlich eine gute Heirat zu machen und dem Familiengeschäft beizutreten.«
»Worin bestand eigentlich Mr. Duffs Geschäft?« Hester empfand beträchtliches Mitleid mit Rhys. All sein Interesse und seine Leidenschaft, all seine Träume schienen dem Osten zu gelten, und man verlangte von ihm, in London zu bleiben, während seine älteren Schwestern all diese Abenteuer nicht nur in ihrer Phantasie, sondern in der Wirklichkeit erleben durften.
»Er war Jurist«, antwortete Sylvestra.
»Eigentumsübertragungen und Besitztümer. Leighton war der
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