Stilles Echo
Erwachsenwerdens.« Sie lächelte schwach, ein Lächeln, das ihrer eigenen Torheit zu gelten schien. »Es wird einem klar, daß die Menschen nicht zwangsläufig genauso fühlen oder denken, wie man selbst es tut. Manche Dinge lassen sich einfach nicht vermitteln.«
»Wirklich nicht?« fragte Sylvestra herausfordernd. »Aber dafür ist doch die Sprache gegeben worden?«
»Worte sind lediglich Etiketten«, erwiderte Fidelis und sprach damit aus, was Hester dachte. Hester selbst hatte das Gefühl, daß es ihr nicht zukäme, ihre Meinung zu diesem Thema zu äußern. »Worte sind doch nur eine Möglichkeit, einen Gedanken zu beschreiben. Wenn man nicht weiß, worin der Gedanke eigentlich besteht, dann wird einem das Etikett auch nicht weiterhelfen.«
Sylvestra war sichtlich verwirrt.
»Ich erinnere mich daran, wie Joel versuchte, mir irgendwelche griechischen oder arabischen Vorstellungen zu erklären«, versuchte Fidelis ihre Worte zu erläutern. »Ich habe ihn nicht verstanden, weil wir in unserer Kultur kein solches Konzept haben.« Sie lächelte kläglich. »Am Ende konnte er lediglich das Wort aufgreifen, das wir dafür haben. Es hat mir nicht im mindesten weitergeholfen. Ich hatte immer noch keine Ahnung, worum es ging.« Sie sah Hester an. »Können Sie mir sagen, wie es ist, einen jungen Soldaten in Scutari an Cholera sterben zu sehen? Oder die Wagenladungen verstümmelter Leiber heranziehen zu sehen, die aus Sebastopol oder Balaclara kamen, mit Männern, von denen viele an Hunger und Kälte starben? Ich meine, können Sie mir das so erklären, daß ich fühlen werde, was Sie gefühlt haben?«
»Nein.« Das eine Wort war genug. Hester betrachtete diese Frau mit dem außergewöhnlichen Gesicht noch gründlicher als zuvor. Zuerst hatte sie lediglich den Eindruck einer dieser vornehmen Frauen mit einem erfolgreichen Mann gemacht, die hereingekommen war, um einer trauernden Freundin ihr Beileid auszudrücken. Doch während dieser Unterhaltung, die als triviale Nachmittagskonversation begonnen hatte, war sie auf eines der Mysterien der Einsamkeit und des Mißverständnisses zu sprechen gekommen, die so viele unbefriedigende Beziehungen kennzeichnen. Hester sah in Sylvestras Augen das jähe Aufflackern von Verständnislosigkeit. Vielleicht ging die Kluft zwischen ihr und Rhys tiefer, als sein Verlust der Sprache es rechtfertigte? Vielleicht hätten auch Worte ihr nicht klarmachen können, was ihm wirklich widerfahren war?
Und was war mit Leighton Duff? Wie gut hatte sie ihn wirklich gekannt? Daß dieser Gedanke auch Sylvestra gekommen war, stand deutlich in ihren dunklen Augen geschrieben.
Auch Fidelis beobachtete Sylvestra, und ihr asymmetrisches Gesicht verriet Sorge. Wieviel hatte man ihr erzählt, und wieviel hatte sie sich, was diese Nacht betraf, zusammengereimt? Hatte sie irgendeine Ahnung, warum Leighton Duff nach St. Giles gegangen war?
»Nein«, brach Hester das Schweigen. »Ich glaube, daß es immer Erfahrungen geben wird, die wir nur unvollkommen mit anderen teilen können.«
Fidelis lächelte flüchtig, und wieder war der Schatten unter ihren Augen zu sehen. »Das klügste, meine Liebe, ist, eine gewisse Blindheit zu akzeptieren und weder sich noch anderen allzu große Vorwürfe zu machen. Man muß nach seinen eigenen Maßstäben Erfolg haben, nicht nach den Maßstäben anderer.«
Es war eine merkwürdige Bemerkung, und Hester hatte den flüchtigen Eindruck, daß sie eine tiefere Bedeutung hatte, die nur Sylvestra verstehen konnte. Sie war sich nicht sicher, ob Fidelis’ Worte sich auf Rhys bezogen oder auf Leighton Duff, oder ob es um irgendeinen Teil von Sylvestras Leben ging, der mit deren Unglück zusammenhing. Was es auch war, Fidelis Kynaston hatte den Wunsch, Sylvestra davon zu überzeugen, daß sie sie verstand.
Ihr Tee war kalt, und die winzigen Sandwiches waren bereits verzehrt, als Arthur Kynaston zurückkehrte. Er wirkte leicht erregt, war aber bei weitem weniger angespannt als vor seinem Besuch bei Rhys.
»Wie geht es ihm?« fragte seine Mutter, bevor Sylvestra etwas sagen konnte.
»Er scheint recht guten Mutes zu sein«, erwiderte Arthur hastig. Er war noch zu jung und sein Gesicht zu offen, um gut lügen zu können. Sein Besuch bei Rhys hatte ihn augenscheinlich zutiefst erschüttert, aber er versuchte, diese Tatsache vor Sylvestra zu verbergen. »Ich bin mir sicher, wenn seine Verletzungen verheilt sind, wird er sich wie neugeboren fühlen. Und Belzoni hat ihn wirklich
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