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Stilles Echo

Stilles Echo

Titel: Stilles Echo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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»Ich bringe Sie erst zu Bella, dann zu Maggie. Also, geh’n wir. Glauben Sie nicht, Sie könnten den ganzen Tag behaglich vor meinem Feuer sitzen!«
    Monk machte sich nicht die Mühe zu antworten, sondern stand auf und folgte ihr aus dem Raum.
    Sie gingen schweigend nebeneinander her, und ihre Schritte hatten kein Echo, denn jedes Geräusch wurde augenblicklich vom Nebel verschlungen. Es war kurz nach fünf Uhr. Auf den Straßen waren noch relativ viele Leute unterwegs, einige lungerten in Hauseingängen herum und hatten offensichtlich den Mut zum Betteln verloren oder sahen keinen Sinn mehr darin. Andere glaubten immer noch hoffnungsvoll an einen Verdienst und boten Streichhölzer, Stiefel, Riemen und ähnliche Dinge feil. Wieder andere gingen energisch ihren Geschäften nach, ob sie nun Billigung vor dem Gesetz fanden oder nicht. Taschendiebe und Halsabschneider tauchten hier und da aus dunklen Winkeln auf, nur um sogleich auf leisen Sohlen wieder zu verschwinden. Monk war nicht dumm genug, um irgend etwas bei sich zu tragen, was von Wert war.
    Während er Vida Hopgood durch die schmalen Gassen folgte und sich dicht an den Hauswänden hielt, sprangen ihn immer wieder Erinnerungen an, flüchtige Eindrücke, das Gefühl, noch schlimmere Orte als diesen kennengelernt zu haben, noch größere Gefahren, noch offensichtlichere Gewalttätigkeit. Er kam an einem Fenster vorbei, das halb mit Stroh und Papier ausgestopft war, ein lächerlicher Schutz gegen die Kälte. Er wandte sich um, als glaubte er zu wissen, was er dort sehen würde, aber es waren nur verschwommene, gelbliche Gesichter im Kerzenschein, ein bärtiger Mann, eine dicke Frau und beide gleichermaßen bedeutungslos für ihn.
    Wen hatte er erwartet? Er spürte lediglich, daß irgendwo eine Gefahr lauerte und daß er sich beeilen mußte. Andere waren von ihm abhängig. Er dachte an schmale Korridore, Tunnel, durch die man auf Händen und Knien kroch, und die ganze Zeit war im Hintergrund das Wissen, daß er mit dem Kopf voran in den Abgrund der Kanalisation unter ihm fallen und ertrinken konnte. Dies war ein beliebter Trick von Dieben und Fälschern, die sich in den großen, von Fäulnis zersetzten Mietshäusern des »Heiligen Landes« versteckten, des unübersichtlichen Viertels zwischen St. Giles und St. George’s. Sie führten Verfolger einen bestimmten Weg entlang, treppauf, treppab und durch gewundene Gassen. Irgendwo gab es immer Falltüren. Es war möglich, daß sich ein Mann eine halbe Meile weit entfernt in Luft aufgelöst hatte, aber genausogut konnte er hinter der nächsten Biegung warten und seinem Verfolger die Kehle aufschlitzen oder eine Falltür öffnen, die in eine Jauchegrube hinabführte. Die Polizei ging nur bewaffnet dorthin und in großen Gruppen und selbst das nur selten. Wenn ein Mann in diesen Elendsquartieren untertauchte, war es durchaus möglich, daß er ein Jahr lang nicht gesehen wurde. Diese Häuser versteckten ihre Brut, und Eindringlinge gingen auf eigene Gefahr hinein.
    Wie lange war das nun her? Das Schanklokal »Stunning Joe’s« war nicht mehr da, soviel wußte er. Er war an der Straßenecke vorbeigekommen, an der es sich früher befunden hatte. Zumindest glaubte er, es zu wissen. Das »Heilige Land« selbst war unzweifelhaft erschlossen worden. Die schlimmsten der Mietshäuser waren verschwunden, zusammengestürzt und neu aufgebaut. Die kriminellen Bollwerke lagen in Trümmern, und ihre Macht gehörte der Vergangenheit an.
    Woher war diese Erinnerung gekommen, und in welche Zeit reichte sie zurück? Zehn Jahre, fünfzehn? Als er und Runcorn beide neu bei der Polizei und unerfahren gewesen waren, hatten sie Seite an Seite gekämpft und einander den Rücken gedeckt. Sie waren Kameraden gewesen. Sie hatten einander vertraut.
    Wann war dieses Vertrauen erloschen? Nach und nach, zehn oder zwanzig kleine Ereignisse, ein allmähliches Auseinandergehen der Neigungen, oder war es ein einziger häßlicher Zwischenfall gewesen? Monk konnte sich nicht erinnern.
    Er folgte Vida Hopgood über einen kleinen Innenhof, auf dem ein Brunnen stand. Dann ging es weiter unter einem Torbogen hindurch und über eine überraschend belebte Straße, bis sie in eine weitere Gasse gelangten. Es war schneidend kalt, der Nebel war wie ein eisiges Leichentuch. Monk zermarterte sich das Gehirn, aber es war nichts da, gar nichts, nur die Gegenwart, sein heutiger Groll gegen Runcorn, seine Verachtung für diesen Mann und das Wissen, daß Runcorn ihn

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