Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Stilles Echo

Stilles Echo

Titel: Stilles Echo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
Vom Netzwerk:
haßte und daß dieses Gefühl tief ging und bitter war und ihn beherrschte. Selbst wenn es gegen seine eigenen Interessen ging, gegen seine Würde und all das, was er gern gewesen wäre, brannte dieses Gefühl mit solcher Leidenschaft in ihm, daß er es nicht zu beherrschen vermochte. Es verzehrte sein Urteil.
    »Hier! Was ist denn los mit Ihnen?« brach Vidas Stimme in seine Gedanken ein. Ihre Worte rissen ihn zurück nach Seven Dials und lenkten seine Gedanken wieder auf die Vergewaltigung der Fabrikarbeiterinnen.
    »Nichts!« entgegnete er scharf. »Wohnt hier Bella Green?«
    »Klar tut sie das! Was denken Sie, weshalb ich Sie hergebracht hätte?« Vida hämmerte gegen die baufällige Tür und rief Bellas Namen.
    Es vergingen einige Minuten, bevor ein Mädchen öffnete, das zwischen zwölf und fünfzehn Jahre alt sein mußte. Ihr langes Haar war lockig und verfilzt, aber ihr Gesicht war sauber, und sie hatte schöne Zähne.
    Vida fragte nach Bella Green.
    »Meine Ma hat zu tun«, erwiderte das Mädchen. »Aber sie kommt bald wieder. Wollen Sie warten?«
    »Und ob.« Vida ließ sich nicht abweisen, selbst wenn Monk das zugelassen hätte.
    Aber sie wurden nicht hereingebeten. Irgend jemand hatte das Kind offensichtlich vor Fremden gewarnt. Es warf die brüchige Tür ins Schloß, und Monk und Vida blieben draußen in der Kälte stehen.
    »Die Schenke«, sagte Vida sofort. Das Verhalten des Mädchens hatte sie offensichtlich nicht weiter gekränkt. »Sie ist sicher losgegangen, um Jimmy eine Flasche zu holen. Der Schnaps dämpft den Schmerz. Armer Kerl.«
    Monk machte sich nicht die Mühe, nachzufragen, ob der Schmerz körperlicher Natur war oder von der trostlosen Verzweiflung des Geistes rührte. Der Unterschied war rein akademisch, die Last, damit leben zu müssen, dieselbe.
    Vida hatte richtig geraten. In der lärmenden, schmutzigen Schenke fanden sie Bella Green. Lachen erfüllte den Raum, auf dem Boden lagen Glasscherben, und die Frauen kauerten sich zusammen, um Wärme zu suchen, statt draußen auf den kalten Straßen zu hocken. Bella Green kam ihnen durch den Schankraum entgegen. Sie hielt eine Flasche im Arm, als sei es ein Kind. Das Getränk bedeutete einige Augenblicke Vergessen für ihren Mann, den sie wahrscheinlich gesund und voller Mut und Hoffnung verabschiedet hatte, als er dem Ruf seines Landes folgte, und der körperlich und seelisch zerbrochen zu ihr zurückgekehrt war, um den langen, verzweifelten Jahren und dem täglichen Schmerz, die vor ihm lagen, entgegenzusehen.
    Bella sah Vida Hopgood, und ihr müdes Gesicht zeigte Überraschung und etwas, das sich vielleicht als Verlegenheit deuten ließ.
    »Wir müssen dich sprechen, Bella«, sagte Vida und ignorierte die Ginflasche, als hätte sie sie nicht bemerkt. »Ich wollte es ja nicht, wo ich doch weiß, daß du mit deinen eigenen Sorgen genug zu tun hast, aber wir brauchen deine Hilfe.«
    »Meine Hilfe!« Bella konnte es nicht verstehen. »Wozu?« Vida drehte sich um und ging auf die Straße hinaus, wobei sie über eine Frau hinwegsteigen mußte, die fühllos für die Kälte auf die Pflastersteine gefallen war. Monk folgte ihnen. Er wußte, wie nutzlos es war, jemanden von der Straße aufheben zu wollen. Wenn sie erst einmal dort lagen, konnten sie zumindest nicht tiefer fallen. Sie würden es kälter und feuchter dort unten haben, aber sie würden sich keine weiteren blauen Flecken mehr zuziehen.
    Zu dritt kehrten sie mit schnellem Schritt zu Bellas Behausung zurück. Bella trat sofort ein. Es war kalt, und die Feuchtigkeit war durch die Wände gesickert. In der Wohnung hing ein säuerlicher Geruch, doch verfügte Bella über zwei Räume, was mehr war, als viele Leute hier besaßen. In dem zweiten Raum stand ein kleiner schwarzer Ofen, der eine schwache Wärme abgab. Neben ihm saß ein einbeiniger Mann. Sein leeres Hosenbein hing schlaff über der Kante seines Stuhls. Er war glattrasiert und sein Haar gekämmt, aber seine Haut war so bleich, daß sie grau wirkte, und unter seinen blauen Augen lagen dunkle Schatten.
    Monk fühlte sich mit solcher Heftigkeit an Hester erinnert, daß er scharf die Luft einsog. Sie mußte viele Männer wie diesen gekannt und gepflegt haben, mußte sie gesehen haben, wenn man sie vom Schlachtfeld trug, immer noch betäubt von Grauen und Ungläubigkeit. Wenn sie noch nicht begriffen hatten, was ihnen zugestoßen war, was vor ihnen lag, und sich nur fragen konnten, ob sie überleben würden. Männer, die sich mit

Weitere Kostenlose Bücher