Stimmen aus dem Nichts
Eines Nachts war es dann so weit.« Mrs Holligan unterbrach ihre Erzählung, denn jetzt kam die junge Mutter den Flur entlang und näherte sich mit ihrem Kinderwagen dem Ausgang. Wortlos, den Blick angestrengt auf ihr Baby gerichtet, ging sie an Justus und der alten Dame vorbei und verließ die Praxis. Mrs Holligan wartete, bis die Tür hinter ihr zufiel, ehe sie ihre Erzählung fortsetzte. »Der Teufel hätte es nicht besser inszenieren können. Als ich in jener Nacht von Metzlas Schmerzgestöhn aus dem Schlaf gerissen wurde, tobte draußen ein fürchterliches Gewitter. Ich eilte sofort in ihr Zimmer. Meine Schwester lag in den letzten Zügen. Sie schwitzte und hatte sich wegen der Hitze des Fiebers das Nachthemd vom Leib gerissen. Mit zitternder Hand winkte sie mich zu sich ans Bett und röchelte etwas. So leise, dass ich mich mit meinem Ohr ihrem Mund nähern musste. Und dann sprach sie es aus. . .«
Justus hatte in seinem Leben schon eine Menge unheimlicher Sachen erlebt, doch das, was Mrs Holligan ihm am helllichten Tag auf dem Flur der Arztpraxis erzählte, erzeugte auf seinem ganzen Körper eine Gäsenhaut: Als wollte sie ihren Bericht noch realistischer gestalten, zog die alte Dame Justus an seinem T-Shirt zu sich heran und näherte ihren Mund seinem Ohr. »Ich hasse dich, Abigail. Du hast mein ganzes Leben verpfuscht. Ich werde jetzt sterben, doch ich werde mich an dir rächen, hörst du?« Mrs Holligan keuchte, ihre Stimme klang wie ein Röcheln. ». . . Ich komme wieder. . .«
Der Erste Detektiv konnte diese hautnahe Demonstration nicht länger ertragen. Ruckartig erhob er sich von seinem Stuhl und rieb sein rechtes Bein, das während Mrs Holligans Erzählung, im Gegensatz zu seiner Aufmerksamkeit, eingeschlafen war. »Mrs Holligan«, begann er und verspürte das drängende Bedürfnis ihren feuchten Atem, der noch immer an seinem Ohr zu kleben schien, wegzureiben. Aus Höflichkeit verzichtete er jedoch darauf. »Nachdem ihre Schwester verstorben war, wie lange dauerte es, bis diese Terroranschläge anfingen?«
»Zwei Monate nach der Beerdigung bekam ich den ersten Anruf. Ich erinnere mich noch genau. Es war der neunzehnte Juni. Mein Geburtstag. Ich war gerade in der Küche beim Kartoffelschälen. Da klingelte im Wohnzimmer das Telefon. Ich war sicher, dass es meine Freundin Gloria aus Boston sein würde, um mir zu gratulieren. Gloria liebt es, stundenlang mit mir zu plaudern. Ich trug also die Schüssel mit den Kartoffeln und das Messer zum Telefon, setzte mich auf den kleinen Stuhl und hob den Hörer ab.«
Justus hatte die Szenerie deutlich vor Augen. Er war fasziniert von Mrs Holligans intensiver Schilderung.
»Zuerst hörte ich nur ein Rauschen«, erklärte sie. »Doch das ist bei Ferngesprächen aus Boston nichts Ungewöhnliches. Man muss manchmal einige Sekunden warten, bis sich der Teilnehmer am anderen Ende der Leitung meldet. Nun ja, ich wartete also und klemmte mir den Hörer zwischen Ohr und Schulter, um weiter Kartoffeln schälen zu können. Da drang plötzlich Metzlas Stimme aus dem Hörer und flüsterte eindringlich: ›Ich hasse dich und ich werde keine Ruhe geben, bis du das Zeitliche gesegnet hast.‹«
»Und es war wirklich ihre Stimme?« Justus spürte eine innere Unruhe. Er setzte sich wieder neben Mrs Holligan auf den Stuhl.
»Da gibt es nicht den geringsten Zweifel.« Ihre Augenlider zuckten nervös. »Es war, als würde ich von einem Blitz getroffen! Ich schrie laut auf, und vor lauter Schreck schnitt ich mir aus Versehen mit dem Kartoffelmesser tief in den Finger. Und dann geschah etwas, was mit den Gesetzen der Logik nicht nachzuvollziehen ist. Denn jetzt kommt das wirklich Unerklärliche. . .«
Justus sah Mrs Holligan erwartungsvoll an.
»Bis hierhin, junger Mann, könnte man annehmen, dass mir jemand mit bespielten Tonbandkassetten einen geschmacklosen Streich gespielt hat. Doch nachdem ich mir vor Schreck mit dem Messer in den Finger geschnitten hatte, hörte ich Metzlas Stimme, die mir durchs Telefon zuzischte: ›Du wirst bluten, Abigail! Bitterlich bluten.‹ Dann lachte sie hämisch und die Verbindung war unterbrochen.«
»Das ist allerdings seltsam.«
»Das ist nicht seltsam, sondern unerklärbar. Niemand außer mir konnte wissen, dass ich mir in den Finger geschnitten hatte. Und doch schien es so, als hätte Metzla es gesehen, gefühlt oder sogar selbst herbeigeführt.«
»Mr Jonas?« Die Stimme der Sprechstundenhilfe klang schrill durch den Flur. Justus blickte
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