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Stimmen aus dem Nichts

Stimmen aus dem Nichts

Titel: Stimmen aus dem Nichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andre Minninger
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nur wiederholen: Meine Schwester ist tot. Ich habe ihr eigenhändig auf dem Totenbett die Augen geschlossen. Sie hatte einen Gehirntumor und ich war froh, dass sie nun endlich nicht mehr leiden musste. Ihre Schmerzen waren unerträglich.«
    Justus wollte gerade mit Anteilnahme reagieren, doch Mrs Holligan ließ es dazu nicht kommen. »Jetzt bitte keine Floskeln, wie ›Es tut mir Leid‹ oder ähnliches. Ich hätte meiner Schwester wirklich einen angenehmeren Tod gewünscht, trotz der heftigen Auseinandersetzungen, die wir mit Regelmäßigkeit hatten. Das kannst du mir glauben. Dennoch: Metzla war eine Tyrannin und hat mich gehasst.«
    »Was für Gründe hatte sie denn?«
    »Eifersucht«, sagte sie trocken und fügte hinzu: »Und stärkste Minderwertigkeitskomplexe.«
    »Eifersüchtig?«, fragte Justus. »Auf wen?«
    »Auf alles. Vor allem auf mich. Dazu muss ich erklären, dass Metzla kleinwüchsig war. Ihr ganzes Leben lang musste sie zu anderen ›hinaufschauen‹, auch zu mir, der jüngeren Schwester. Ich sehe sie heute noch vor mir: mit ihrem grimmigen Gesicht und der kleinen roten Handtasche, von der sie sich niemals trennte! Als unser Vater damals starb, wurde das Erbe unter uns Schwestern aufgeteilt. Ich bekam die Villa unserer Eltern, während Metzla der Familienbetrieb, eine Textilfabrik, übertragen wurde. In meinen Augen war das nur gerecht, aber   meine Schwester schielte nur auf die Teller der anderen und   war mit ihrer Portion immer unzufrieden. Egal, was drauflag.«
    Justus hatte bei dieser bildhaften Erklärung Mühe ein Grinsen zu verkneifen.
    »Wir wohnten von Kindheit an in unserem Haus«, fuhr Mrs Holligan fort. »Metzla heiratete früh, zog aus und folgte ihrem Mann nach Mexiko auf seine Ranch. Vierzig Jahre ließ sie nichts von sich hören. Sie brach den Kontakt zu unseren Eltern und mir ohne Begründung ab und kam noch nicht einmal zur Beerdigung unserer Mutter. Aber als Jahre später unser Vater verstarb und die Testamentseröffnung bevorstand, stand sie plötzlich wieder vor der Tür. Jedoch nicht aus Anteilnahme. Der Zeitpunkt war für sie mehr als günstig. Kurz zuvor hatte sie in Mexiko alles verloren. Die Ranch war niedergebrannt. Später fand man die Überreste ihres Mannes in den verkohlten Trümmern.«
    Wieder öffnete Mrs Holligan ihre Handtasche. Justus erwartete, dass sie nun ein Foto ihrer Schwester hervorziehen würde, doch die alte Dame kramte lediglich ein Taschentuch heraus und schneuzte sich kräftig. »Ich hegte aber keinen Groll gegen sie. Im Gegenteil: Ich ließ sie wieder in das Haus einziehen, das ja nun testamentarisch mir gehörte.«
    »Und dann?«
    »Zwei Jahre später entschloss ich mich, das Haus zu verkaufen. Die Erinnerungen wurden mir zu viel. Ohne meinen Vater wirkte das Haus so kalt und leer. Meine Schwester hatte sich inzwischen von dem Geld, das die Textilfabrik abwarf, eine kleine Eigentumswohnung gekauft. Ich lebte also allein und litt unter schlimmsten Depressionen. Dann fasste ich mir eines Tages ein Herz und setzte in der ›Los Angeles Post‹ ein Inserat auf, in dem ich das Haus zum Verkauf anbot. Diese Entscheidung zu treffen ist mir nicht leicht gefallen. Viel schlimmer aber war – als ich dann einen Käufer fand und der Verkauf auch schon abgewickelt war – dass meine Schwester Amok gelaufen ist.«
    »Wie darf ich das verstehen?«
    »Getobt hat sie und geschrien! Dass ich das Erbe unseres Vaters mit Füßen trete und finanziell zu Grunde gehen werde. Sie hat immer nur materiell gedacht. Innere Werte kannte sie nicht.« Sie atmetete tief durch. »Dann kam der Gehirntumor. Metzla wurde zum Pflegefall und ich zog zu ihr in die Eigentumswohnung, da ihr ein Umzug in mein neues Haus gesundheitlich nicht mehr zuzumuten gewesen wäre. Sie lag jetzt die meiste Zeit im Bett. Ihre Kopfschmerzen wurden von Tag zu Tag schlimmer. Sie wusste, dass sie bald sterben würde, und gönnte mir meine Gesundheit nicht, obwohl ich mich Tag und Nacht für sie aufopferte. Keine Stunde verging ohne eine Schikane von ihr. Sie nässte in ihr Bett, zerbrach das wertvolle Familiengeschirr und beschimpfte mich aufs Übelste: ›Wenn Du nicht gewesen wärst, dann wäre mein Leben von Grund auf anders verlaufen, und ich läge dann sicherlich nicht hier auf dem Sterbebett.‹ Das waren exakt ihre Worte.«
    Justus war betroffen.
    »Zum Schluss bestand Metzla nur noch aus purem Hass. Ich konnte nicht mehr vernünftig mit ihr reden. Die Krankheit war schon zu weit fortgeschritten.

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