Stimmen aus dem Nichts
nicht einschätzen. Die Tatsache, dass die Dame in dieser Praxis in psychotherapeutischer Behandlung war, hemmte ihn, wie gewohnt mit seinen bohrenden Fragen in die Offensive zu gehen.
Mrs Holligan schien seine Gedanken erraten zu haben. »Warum schweigst du?«, fragte sie und blickte Justus mit klaren Augen an. »Du traust dich nicht, mich nach meinem Leiden zu fragen. Dabei hast du doch ebenso gut wie ich verstanden, was Dr. Miller dieser Frau im Waschraum über mich erzählt hat.«
»Allerdings«, gab er offen zu.
»Mein Körper baut zwar rapide ab, aber mein Gehör funktioniert noch fabelhaft. Es ist das Einzige, worauf ich mich noch hundertprozentig verlassen kann. Es war keine Halluzination. Ich weiß genau, was ich gehört habe, auch wenn die Ärzte hier anderer Meinung sein mögen. Verfolgungswahn nennen sie es.« Mrs Holligans Stimme nahm langsam einen sarkastischen Ton an. »Wahrscheinlich kann ich noch dankbar sein, dass sie mich nicht umgehend ins Sanatorium eingewiesen und mit Beruhigungsmitteln voll gepumpt haben.«
»Diese Stimme, Madam«, Justus kam sich groteskerweise in diesem Moment selbst wie ein Psychologe vor, der versuchte, dem Problem seiner Patientin auf die Spur zu kommen. »Vorhin erwähnten Sie, im Waschraum hätte die Stimme Ihrer Schwester zu Ihnen gesprochen. Ist das richtig?«
Mrs Holligan nickte.
»Vorausgesetzt, man lässt die Tatsache außer Acht, dass Stimmen nicht ohne ersichtliche Ursache einfach aus dem Nichts ertönen – weshalb waren Sie denn derart aufgebracht?«
Die alte Dame sah Justus mit weit aufgerissenen Augen an. »Ich habe Angst. Große Angst!« Ihre Hände begannen wieder zu zittern. Dann griff sie nach Justus’ Fingern und hielt sie fest umschlossen. »Meine Schwester bedroht mich. Sie will mir etwas antun! Sie terrorisiert mich am Telefon, zerstört mein Haus und hat sogar versucht, mich mit dem Auto zu überfahren. Sie wird keine Ruhe geben, bis ich unter der Erde liege. Letzte Nacht klingelte bei mir das Telefon. Metzla war dran und machte mir unmissverständlich klar, dass mein Ende nun bald gekommen sei.«
Justus war froh, als Mrs Holligans feuchte Hände ihn wieder losließen. Er stand auf und zog sein T-Shirt über dem Bauch glatt. »Mrs Holligan«, begann er. »Meiner Ansicht nach ist es gar nicht verwunderlich, dass Sie die Stimme Ihrer Schwester bis hierher aufs Klo verfolgt. Angesichts der Situation, in der Sie sich gerade befinden, finde ich es sogar verständlich. Ich weiß zwar nicht, was Dr. Franklin Ihnen rät, aber ich sehe eine Möglichkeit, den Terroranschlägen und Belästigungen Ihrer Schwester Metzla schnellstens ein Ende zu bereiten und sie anschließend zur Rechenschaft zu ziehen.«
»Wie willst du das denn anstellen?«
»Waren Sie schon bei der Polizei?«
»Ach«, Mrs Holligan winkte müde ab. »Ein Dutzend Mal.«
»Sie glauben Ihnen nicht, stimmt’s?« Justus’ Augen begannen zu leuchten. »Sie halten Sie für eine alte, verwirrte Frau, die sich dringendst in psychiatrische Behandlung begeben sollte. Habe ich Recht?«
Mrs Holligan schluckte. »So ähnlich, ja.«
»Dann darf ich Sie bitten, uns den Fall zu übertragen. Meine zwei Kollegen und ich, wir sind ein Detektivteam. Spezialisiert auf mysteriöse Vorkommnisse und Geheimnisse aller Art. Ich würde es als Privileg ansehen, Ihnen aus dieser Sache herauszuhelfen, damit Sie wieder ruhig schlafen können.« Mit der Hand fuhr Justus in seine hintere Hosentasche und zog daraus eine Visitenkarte hervor. Er reichte sie der alten Dame, woraufhin diese ihre Handtasche öffnete und umständlich ihre Brille hervorkramte. Die Gläser waren aus dickem Glas geschliffen, so dass Mrs Holligans Augen unheimlich vergrössert dahinter hervorglotzten und beim Lesen der kleinen Karte abwechselnd von links nach rechts wanderten.
Mrs Holligan war sich der abschreckenden Wirkung ihrer Brille wohl bewusst. Denn nachdem sie den Text auf der Visitenkarte gelesen hatte, gab es für sie nichts Eiligeres, als die Brille von ihrer Nase zu nehmen und in ihrer Handtasche verschwinden zu lassen.
»Übernehmt den Fall, Jungs!«
Abermals knipste sie ihre Handtasche auf und kramte mit nervös zitternden Fingern einen Zettel und einen Kugelschreiber hervor. »Warte. . . Ich schreibe euch meine Adresse auf.« Sie legte ihre Handtasche als Schreibunterlage auf ihren Schoß und reichte Justus kurze Zeit später einen Zettel. »Und du meinst wirklich, ihr bekommt meine Schwester zu fassen, bevor sie
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