Stimmen der Angst
schwer zu ergründen. Und beängstigend.
Er legte Skeets Zettel auf den Nachttisch und nahm einen Notizblock zur Hand. Auf das oberste Blatt hatte er in Druckbuchstaben die Zeilen des Haiku geschrieben, die sein Bruder als Regeln bezeichnet hatte.
Klare Kaskaden zersprühen in den Wellen Kiefernnadeln blau.
Die Wellen waren Skeet. Seiner Aussage zufolge waren die Kiefernnadeln Missionen. Die klaren Kaskaden waren Dusty oder Yen Lo, vielleicht aber auch jeder beliebige Mensch, der das Haiku in Skeets Gegenwart rezitierte.
Anfangs hatte Dusty alles, was Skeet gesagt hatte, für sinnloses Kauderwelsch gehalten, aber je länger er darüber nachdachte, umso mehr hatte er das Gefühl, dass ein System und ein Sinn dahinter steckten, die es nun zu enträtseln galt. Aus unerfindlichen Gründen begann er in dem Haiku eine Art Mechanismus zu vermuten, ein einfaches Instrument, dessen Wirkung vielleicht mit der einer Drucksprühpistole für Farben oder einer Nagelpistole vergleichbar war.
Hätte man einem Zimmermann des vorindustriellen Zeitalters eine Nagelpistole in die Hand gedrückt, so hätte dieser möglicherweise geahnt, dass es sich um ein Werkzeug handelte, aber ganz sicher hätte er nicht begriffen, wie und zu welchem Zweck es benutzt wurde – bis er sich rein zufällig einen Nagel durch den Fuß gejagt hätte. Die Vorstellung, Skeet unter Umständen mit dem Haiku ungewollt psychischen Schaden zuzufügen, erschreckte Dusty. Er beschloss, erst einmal dieses Werkzeug gründlich unter die Lupe zu nehmen, bis er dessen Funktionsweise verstand, bevor er eine Entscheidung darüber traf, ob er dessen Wirkung auf Skeet näher erforschen sollte oder nicht.
Missionen.
Um den Sinn und Zweck des Haiku begreifen zu können, musste er zumindest verstehen, was Skeet mit diesem Wort gemeint hatte.
Dusty war sicher, dass er sich an den genauen Wortlaut des Haiku und an Skeets eigenartige Interpretation desselben erinnerte, weil er mit einem überaus verlässlichen fotografischen und auditiven Gedächtnis gesegnet war, das ihn mit einem annehmbaren Notendurchschnitt durch die höhere Schule und das erste Studienjahr gebracht hatte, bevor ihm die Erkenntnis gedämmert war, dass ein Leben als Maler und Lackierer mehr Erfüllung für ihn versprach als eine akademische Laufbahn.
Missionen.
Dusty suchte nach Assoziationen und Worten mit verwandter Bedeutung. Auftrag. Aufgabe. Pflicht. Job. Berufung. Beruf. Kirche.
Nichts von alledem brachte ihn in seinen Überlegungen weiter.
Valet stieß auf seinem Lammfelllager ein leises Winseln aus, als wären den Kaninchen seiner Träume Reißzähne gewachsen und sie hätten die Rolle der Jagdhunde übernommen, von denen er nun seinerseits gehetzt wurde.
Die leisen Wimmertöne des Hundes reichten nicht, um Martie aus ihrem bleiernen Schlaf zu wecken.
Manchmal konnten Valets Albträume jedoch so schlimm werden, dass er mit angstvollem Gebell daraus aufschreckte.
»Ruhig, Junge. Ganz ruhig«, flüsterte Dusty.
Selbst im Traum schien der Retriever die Stimme seines Herrchens zu vernehmen, denn er hörte augenblicklich auf zu winseln.
»Ruhig. Brav, Valet. Braver Junge.«
Der Hund wachte nicht auf, aber sein buschiger Schwanz fegte ein paarmal auf dem Lammfell hin und her, bevor er ihn wieder einrollte.
Während Martie und der Hund friedlich schliefen, schoss Dusty plötzlich kerzengerade von seinem Kissenberg hoch, aufgerüttelt von einer Erinnerung, die ihn den bloßen Gedanken an Schlaf vergessen ließ. Auch beim Grübeln über das Haiku wäre er sicherlich nicht eingeschlafen, aber jetzt war er so hellwach, dass es ihm vorkam, als hätte er eben noch vor sich hin gedämmert. Alle seine Sinne waren in Alarmbereitschaft, er fühlte sich so kalt, als wäre sein Rückenmark zu Eiswasser geworden.
Ihm war ein bestimmtes Erlebnis in den Sinn gekommen, das er an diesem Tag mit dem Hund gehabt hatte.
Valet steht, geduldig mit seinem zotteligen Schwanz wedelnd, an der Verbindungstür zwischen Küche und Garage, bereit, Dusty auf seinem Ausflug zu Skeets Wohnung zu begleiten, während Dusty in einen Nylonanorak mit Kapuze schlüpft.
Das Telefon klingelt. Jemand, der ihm ein Abonnement für die L. A. Times aufschwatzen will.
Nach wenigen Sekunden hängt er den Hörer des Wandtelefons wieder ein, und als er sich umdreht, stellt er fest, dass Valet nicht mehr vor der Garagentür steht, sondern auf der Schwelle liegt, als wären inzwischen mindestens zehn Minuten vergangen, als hätte der Hund
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