Stimmen der Angst
Ahriman sich ihrer hemmungslos und ausgiebig bedienen.
Ihre zweite Funktion bestand darin, angemessen zu leiden und zu sterben. Als Spielzeug hatte sie ihm schon beträchtliche Freude bereitet mit ihrem ebenso tapferen wie aussichtslosen Kampf gegen die Agoraphobie, ihrer Angst und Verzweiflung, köstlich wie Marzipan. Die mutige Entschlossenheit, mit der sie sich ihren Humor zu bewahren und ihr Leben zurückzugewinnen suchte, war mitleiderregend und darum umso reizvoller. In Kürze würde er ihre Phobie verstärken und sie in eine solche Verwirrung stürzen, dass sie rasch und unwiderruflich dem Ende entgegenging, und dann würde er die letzte – und höchste – Erregung auskosten, die sie ihm verschaffen konnte.
Jetzt saß sie scheu und mit Tränen in den Augen da, im Widerspruch der Gefühle, die das Bild des bevorstehenden Inzests in ihr auslöste, abgestoßen und doch erfüllt von einer perversen, süßen Lust, genau wie er es ihr eingegeben hatte. Zitternd.
Von Zeit zu Zeit bewegten sich ihre Augen schnell hin und her, das verräterische REM-Signal, welches das tiefste Stadium der Persönlichkeitsunterdrückung anzeigte. Es lenkte den Arzt ab und beeinträchtigte ihre Schönheit.
Da Susan die Rollen bereits kannte, die in dieser Nacht gespielt wurden, da sie wusste, was in diesem erotischen Szenario von ihr erwartet wurde, holte Ahriman sie ein Stück weit zur Oberfläche zurück, wenn auch nicht annähernd bis zur Ebene des vollen Bewusstseins. Gerade so weit, dass die REM-Phasen aufhörten.
»Susan, ich möchte, dass du jetzt die Kapelle verlässt«, sagte er in Anspielung auf den imaginären Raum in der tiefsten Tiefe ihres Unterbewusstseins, in den er sie zum Zweck der Programmierung geführt hatte. »Komm heraus und steig die Treppe herauf, aber nicht zu weit, nur bis zum nächsten Absatz, wo ein bisschen mehr Licht hinkommt. Da, genau da.«
Ihre Augen waren wie klare Seen, auf die graue Wolken ihre trüben Schatten warfen und die, von ein paar schwachen Sonnenstrahlen berührt, plötzlich größere Tiefe gewannen.
»Was du da trägst, wirkt immer noch anziehend auf mich«, sagte er. »Weiße Baumwolle. Die Schlichtheit.« Bei einem seiner zurückliegenden Besuche hatte er sie angewiesen, sich in dieser Art zu kleiden, bis er sich etwas anderes einfallen lassen würde; der Anblick erregte ihn. »Die Unschuld. Reinheit. Wie ein Kind und doch so unglaublich reif.«
Die Rosen auf ihren Wangen erblühten in noch kräftigerem Rot, und sie schlug sittsam die Augen nieder. Tränen der Scham bebten wie Tautropfen auf den Blütenblättern ihrer Röte.
Wenn sie es wagte, den Blick auf den Arzt zu richten, sah sie ihren Vater. So groß war die Suggestivkraft seiner eindringlichen Worte, wenn er im Heiligtum ihrer inneren Kapelle zu ihr sprach.
Später, wenn sie fertig waren mit Spielen, würde er ihr befehlen, alles zu vergessen, was von dem Moment seines Anrufs bis zu der Sekunde, in dem er die Tür ihrer Wohnung hinter sich schloss, passiert war. Sie würde sich weder an seinen Besuch noch an die Inzestfantasien erinnern.
Er konnte sich jedoch, wenn er Lust hatte, für Susan eine detaillierte Geschichte des sexuellen Missbrauchs durch ihren Vater ausdenken. Es würde viele Stunden dauern, die Fäden dieser schaurigen Erfindung in das Gespinst ihrer realen Erinnerungen einzuweben, aber wenn das erst einmal geschehen war, konnte er ihr befehlen, an den langjährigen Missbrauch zu glauben und das verdrängte Trauma in den Therapiesitzungen mit ihm allmählich »zutage zu fördern«.
Wenn sie dann zur Polizei ging und ihren Vater anzeigte, und man forderte sie auf, sich einem Lügendetektortest zu unterziehen, so würde sie alle Fragen mit unerschütterlicher Überzeugung und dem genau richtigen Maß an innerer Erregung beantworten. Atmung, Blutdruck, Puls und Schweißabsonderung der Haut würden jeden Ermittlungsbeamten, der den Test überwachte, vom Wahrheitsgehalt ihrer Worte überzeugen, weil sie selbst absolut sicher war, dass ihre scheußlichen Anschuldigungen bis ins kleinste Detail den Tatsachen entsprachen.
Ahriman hatte allerdings nicht die Absicht, ein solches Spiel mit ihr zu treiben. Bei zwei anderen Opfern hatte es ihm Spaß gemacht; aber inzwischen hatte er die Lust daran verloren.
»Sieh mich an, Susan!«
Sie hob den Kopf. Als ihre Augen sich trafen, fühlte sich der Arzt an ein Gedichtfragment von e e cummings erinnert: In deinen Augen lebt/ein grünes ägyptisches Rauschen.
»Das
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