Stimmen der Angst
eine magische Tür in eine der von Drachen bewohnten Parallelwelten schleudern konnte, in die sich Skeet so gern von seinen Romanen entführen ließ. Vielleicht hatte der Zauber des Amuletts aber auch schon gewirkt, und er war von der einen Welt in die nächste übergewechselt, ohne es zu merken. Hic sunt dracones!
»Martie, ich glaube, du hast nicht einen einzigen Satz in diesem Buch gelesen. Oder es auch nur aufgeschlagen.«
Sie machte mit der Hand, in der sie das Schokoladenbonbon zwischen Daumen und Zeigefinger hielt, kurz vor dem Mund Halt, und sagte: »Es ist ein echter Thriller. Es ist gut geschrieben. Die Handlung ist spannend, und die Figuren sind lebendig geschildert. Ich … genieße … die Lektüre.«
Dusty sah, dass ihr der monotone Tonfall ihrer Stimme bewusst geworden war. Ihr Mund stand offen, aber sie steckte das Bonbon nicht hinein. Die Augen hatte sie vor Verblüffung aufgerissen.
Er hielt das Buch so in die Höhe, dass sie die Rückseite sehen konnte, und sagte: »Es geht um Gehirnwäsche, Martie. Das geht sogar aus dem Umschlagtext hervor.«
Ihre Miene verriet deutlicher, als sie es mit Worten hätte ausdrücken können, dass ihr das Thema des Romans neu war.
»Die Geschichte spielt während des Koreakriegs und in den Jahren danach«, sagte er zu ihr.
Weil das Schokoladenbonbon in ihrer Hand allmählich klebrig wurde, steckte sie es in den Mund.
»Es geht um einen Mann«, fuhr Dusty fort, »einen amerikanischen Soldaten namens Raymond Shaw, der …«
»Ich höre«, sagte Martie.
In dem Moment, als Martie ihn unterbrach, war Dusty in Gedanken mit dem Buch beschäftigt, aber als er zu ihr aufblickte, sah er, dass ihr Gesicht einen unbeteiligten, distanzierten Ausdruck angenommen hatte. Ihr Kinn hing so schlaff herunter, dass er sehen konnte, wie das Schokoladenbonbon auf ihrer Zunge lag.
»Martie?«
»Ja«, sagte sie mit schleppender Stimme, ohne auch nur den Mund zuzumachen. Das Bonbon hüpfte auf ihrer Zunge.
Hier wiederholte sich offenbar das Spiel, das er mit Skeet im New Life erlebt hatte, nur war diesmal Martie seine Mitspielerin.
»O Scheiße«, sagte er.
Mit einem Blinzeln machte sie den Mund zu, schob das Bonbon mit der Zungenspitze in die linke Backentasche und sagte: »Was ist los?«
Sie war wieder sie selbst, ihre Miene nicht mehr distanziert, ihr Blick wach und klar.
»Wo warst du?«, fragte Dusty.
»Ich? Wann?«
»Jetzt. Eben gerade.«
Sie sah ihn mit schräg geneigtem Kopf an. »Ich glaube, du brauchst wirklich eine Zuckerspritze.«
»Warum hast du ›Ich höre‹ gesagt?«
»Das habe ich nicht gesagt.«
Ein Blick durch die Frontscheibe überzeugte Dusty davon, dass es da draußen keine Burg aus glänzend schwarzem Obsidian gab, deren säbelförmige Zinnen mit glutäugigen Schrekkensgestalten bewehrt waren, auch keine Ritter, die von wilden Drachen verschlungen wurden. Nichts als den Parkplatz, über den der Wind pfiff, die Welt, wie er sie kannte, wenn auch weniger erkennbar als je zuvor.
»Ich habe über das Buch gesprochen«, sagte er geduldig. »Weißt du noch, was du als Letztes darüber gesagt hast?«
»Dusty, was, um alles in der Welt …«
»Tu mir den Gefallen.«
Sie seufzte. »Na schön, du hast gesagt, es geht um irgendeinen Mann, einen Soldaten …«
»Und?«
»Und dann hast du ›o Scheiße‹ gesagt. Das war alles.«
Allmählich wurde es Dusty unheimlich, das Buch auch nur in den Händen zu halten. Er legte es aufs Armaturenbrett. »Du kannst dich nicht erinnern, wie der Soldat hieß?«
»Das hast du mir nicht gesagt.«
»Doch, das habe ich. Und im nächsten Moment … warst du weg. Gestern Abend hast du mir gesagt, du hast das Gefühl, dich an bestimmte Zeitspannen des Tages nicht zu erinnern. Na bitte, da hast du schon ein paar Sekunden, die dir in der Erinnerung fehlen.«
Ungläubig sah sie ihn an. »Ich habe jetzt aber nicht dieses Gefühl.«
»Raymond Shaw«, sagte er.
»Ich höre.«
Wieder weggetreten. Blick ins Leere gerichtet. Aber nicht so tief in Trance versunken wie Skeet am Vortag.
Angenommen, ein bestimmter Name aktiviert die Person. Angenommen, das Haiku macht deren Unterbewusstsein dann zugänglich für Instruktionen.
»Klare Kaskaden«, sagte Dusty, weil es das einzige Haiku war, das er kannte.
Ihre Augen wirkten glasig, aber sie zuckten nicht hin und her, wie er es bei Skeet beobachtet hatte.
Sie hatte am Vorabend beim Einschlafen nicht auf die Verse reagiert; und sie würde auch jetzt nicht darauf reagieren. Ihr
Weitere Kostenlose Bücher