Stimmen der Angst
als schwach ist«, sagte Martie. »Etwas, das mit Susan passiert.«
In ihrer Stimme lag eine solche Schärfe, dass Dusty den Blick auf den Hafen vergaß und sie fragend ansah, »Was ist mit Susan?«
»Sie hat Gedächtnislücken, genau wie wir. Aber nicht nur kurze Momente. Ihr fehlen lange Zeitspannen in der Erinnerung. Ganze Nächte.«
Der Valiumschleier vor ihren Augen hatte sich allmählich gelüftet, und die angenehme, künstlich erzeugte Ruhe wich wieder einem Gefühl der Angst und inneren Unruhe. In Dr. Ahrimans Praxis hatte sich ihre unnatürlich blasse Haut mit einem rosigen Schimmer überzogen, aber nun zogen sich dunkle Schatten in den zarten Halbmonden unter ihren Augen zusammen, als würde sich ihr Gesicht im Einklang mit dem schwindenden Winternachmittag verdüstern.
Die Ampel am Ende der Brücke wurde grün. Die Autoschlange setzte sich langsam wieder in Bewegung.
Martie erzählte Dusty von Susans Phantomvergewaltiger.
Dusty hatte sich Sorgen gemacht. Er hatte Angst empfunden. Aber das Gefühl, das jetzt sein Herz zusammenzog, war schlimmer als Sorge und Angst.
Manchmal, wenn er in der Tiefe der Nacht aufwachte und Marties süßen, leisen Atemzügen lauschte, beschlich ihn eine tödliche Furcht – schlimmer als alle Ängste, die er sonst kannte. Ein Glas Wein zuviel am Abend, zuviel Sahnesoße, vielleicht eine bittere Knoblauchzehe, das alles lag ihm so schwer auf dem Gemüt wie im Magen, und wenn er gedankenverloren in die Stille vor der Morgendämmerung lauschte, nahm er darin nicht wie sonst die Schönheit der Ruhe war, vernahm darin keinen Frieden, sondern nur die Drohung des leeren Raums. In diesen lautlosen Nächten ließ ihn der Glaube, der ihm fast immer im Leben Halt gegeben hatte, im Stich, und ein Wurm des Zweifels bohrte sich ihm ins Herz. Dann fragte er sich, ob dieses eine Leben alles war, was ihm und Martie gemeinsam vergönnt war, ob danach nichts als Dunkelheit kam, in der es keine Erinnerungen gab, ja nicht einmal das Gefühl der Einsamkeit. Er wollte kein »Bis der Tod euch scheidet«, er wollte nicht weniger als die Ewigkeit, und wenn ihm eine verzweifelte innere Stimme einzuflüstern versuchte, dass die Ewigkeit ein Schwindel sei, streckte er im Dunkel die Hand aus und berührte die schlafende Martie. Nicht weil er sie wecken wollte, sondern weil er das spüren wollte, was felsenfest in ihr war und sich ihm bei der leisesten Berührung offenbarte: ihre natürliche Schönheit, ihre Unsterblichkeit und die Verheißung, dass auch er unsterblich war.
Als er jetzt zuhörte, wie Martie ihm Susans Geschichte erzählte, wurde Dusty wieder der Apfel, in den sich der Wurm des Zweifels bohrte. Was ihnen allen widerfuhr, schien ihm unwirklich, sinnlos, wie ein Blick in das Chaos, auf das sich das Leben gründete. Ihn beschlich die düstere Ahnung, dass das Ende, wenn es denn kam, nicht gleichzeitig ein Anfang sein würde, sondern nichts als das Ende, und dieses Ende, das spürte er, kam in rasendem Tempo auf sie zu, ein grausamer, furchtbarer Tod, dem sie blindlings entgegenschleuderten.
Als Martie mit ihrem Bericht fertig war, reichte Dusty ihr das Handy. »Versuch noch einmal, sie anzurufen.«
Sie wählte die Nummer. Das Telefon klingelte und klingelte. Und klingelte.
»Fahren wir mal hin und fragen die Rentner unten im Haus, ob sie wissen, wo sie ist«, schlug Martie vor. »Es ist doch nicht weit von hier.«
»Ned wartet auf uns. Sobald ich habe, was er für mich besorgt hat, fahren wir zu Susan. Eins ist aber mal sicher: Es ist nicht Eric, der in der Nacht bei ihr herumschleicht.«
»Weil derjenige, der ihr das antut, etwas mit den Leuten zu tun hat, die für das, was dir, mir und Skeet passiert, verantwortlich sind.«
»Genau. Und Eric, also wirklich, der Mann ist Anlageberater, ein Buchhalter, kein Magier, der seine Opfer hypnotisiert und willenlos macht.«
Martie wählte noch einmal Susans Nummer und drückte das Handy dann krampfhaft ans Ohr. Sie machte ein ganz angespanntes Gesicht, so sehr wünschte sie sich, dass Susan endlich abhob.
53. Kapitel
Ned Motherwells ganzer Stolz war ein 82er Chevy Camaro: unlackiert, aber mit einer regelmäßig erneuerten mattgrauen Grundierung, verkürztes Verdeck, runde Scheinwerfer, ohne jeden Schnickschnack, abgesehen von zwei fetten chromglänzenden Auspuffrohren am Heck. Wie der Camaro so am südöstlichen Rand des Parkplatzes vor dem Einkaufszentrum stand, an dem sie sich verabredet hatten, sah er aus wie ein Fluchtauto in
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