Stimmen der Angst
nicht mit nach Südamerika gekommen oder wo immer sie hier ist, er ist zu Hause in Kalifornien, und niemand ist hier, der ihr helfen kann, sie füllt sich mit Blättern, ihr Bauch ist gebläht, ihre Lunge ist voll gestopft, ihre Kehle ist zugesetzt mit Blättern, und jetzt tanzt ihr ein rasender Blätterwirbel durch den Kopf, kreist unter der Schädeldecke, schabt über die Hirnrinde, bis sie nicht mehr klar denken kann, bis sie nur noch das Lärmen der Blätter hört, das unaufhörliche, kratzende-schabende-knisterndezischende-wispernde-knackende-raschelnde LÄRMEN –
»Und an dieser Stelle wache ich immer auf«, sagte Martie.
Sie hatte den Blick auf die letzte einsame Garnele gesenkt, die auf den Resten eines Pastabetts lag und weniger einem Meerestier ähnelte als einem Kokon von der Sorte, wie sie sie als Kind manchmal entdeckt hatte, wenn sie auf Bäume geklettert war. Hoch oben in der Krone eines ausladenden Baumriesen, wo man das Gefühl hatte, in einer hellen, frischen Laube aus Sonnenlicht, smaragdgrünem Blattwerk und reiner Luft zu sein, war sie einmal auf ein ganzes Nest davon gestoßen, Dutzende fetter Kokons, an die Unterseite von Blättern geklebt, die sich um sie krümmten, als müssten sie die Schmarotzer, die von ihnen zehrten, vor feindlichen Blicken schützen. Mit einem nur ganz leichten Anflug von Widerwillen und im Gedanken daran, dass aus Puppen Raupen und aus Raupen Schmetterlinge werden konnten, sah sie sich die eingesponnenen kleinen Gebilde aus der Nähe an und bemerkte, dass sich in einigen davon Leben regte. Mit dem festen Entschluss, dem zappelnden, golden oder leuchtend rot geflügelten Wunder ins Licht der Welt zu verhelfen, bevor es sich ein paar Minuten oder vielleicht sogar Stunden später aus eigener Kraft würde befreien können, schälte sie ganz vorsichtig die Schichten des Kokons ab – fand aber keinen Schmetterling, nicht einmal einen Nachtfalter, sondern ein Gewimmel winziger Spinnen, die aus der Schale eines Eis hervorquollen. Nach dieser Entdeckung hatte sie es nie wieder als ein solches Hochgefühl empfunden, einfach nur in der luftigen Höhe eines Baumwipfels zu sitzen oder überhaupt in die höheren Regionen irgendeines Orts zu steigen; denn nun begriff sie, dass es für jeden Wurm, der sich unter Steinen oder im Schlamm verkriecht, eine andere, ebenso armselige Kreatur gibt, die in höheren Gefilden gedeiht, denn unsere Welt ist zwar wundersam, aber es ist auch eine gefallene Welt.
Da ihr der Appetit vergangen war, schob sie den Teller mit der letzten Garnele von sich und nahm zu ihrem Bier Zuflucht.
Auch Dusty schob die Reste seines Abendessens beiseite. »Wenn du mir deinen Albtraum doch nur schon viel früher so genau beschrieben hättest«, sagte er.
»Es ist nur ein Traum. Abgesehen davon, was hätte dir das genützt?«
»Nichts«, sagte er knapp. »Bis zu meinem gestrigen Traum zumindest. Danach wären mir die Parallelen sofort aufgefallen. Obwohl ich mir nicht sicher bin, ob mir deren Bedeutung klar gewesen wäre.«
»Welche Parallelen?«
»In deinem wie in meinem Traum ist ein … ein unsichtbarer Jemand anwesend. Und es gibt das Motiv des Besessenseins, einer dunklen Kraft, die gegen unseren Willen in unser Herz, in unseren Kopf eindringt. Und dann natürlich der Infusionsschlauch, den du noch nie erwähnt hast.«
»Infusionsschlauch?«
»In meinem Traum ist es eindeutig ein Infusionsschlauch, der an einer Stehlampe in unserem Schlafzimmer hängt. In deinem Traum ist es eine Schlange.«
»Aber es ist eine Schlange und nichts anderes.«
Er schüttelte den Kopf. »In diesen Träumen ist kaum etwas das, was es zu sein scheint. Es sind Bilder, Symbole. Weil es nicht nur Träume sind.«
»Es sind Erinnerungen«, sagte Martie ins Blaue und spürte im selben Augenblick, wie nah sie damit der Wahrheit kam.
»Verbotene Erinnerungen an die Situation, in der wir programmiert worden sind«, sagte Dusty und nickte. »Und die Leute, die uns programmiert haben, wer immer das sein mag, haben alle diese Erinnerungen gelöscht, mussten sie löschen, weil sie kein Interesse daran haben können, dass wir irgendetwas davon im Gedächtnis behalten.«
»Aber irgendwo tief im Bewusstsein ist die Erinnerung doch hängen geblieben.«
»Und wenn sie wieder an die Oberfläche kommt, muss es in dieser verschlüsselten, symbolhaften Weise geschehen, weil uns der direkte Zugang dazu verwehrt ist.«
»Wie wenn ich im Computer eine Datei lösche. Sie verschwindet aus dem
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