Stimmen der Angst
Ringe gerecht zu werden, und in ihrem Zustand psychischer Erschöpfung Realität und Fantasie nicht mehr auseinanderhalten?
Nein. Das war es nicht. Die Wahrheit war zwar weniger fantastisch, aber ebenso rätselhaft.
In diesem Moment fiel Marties Blick auf ihr Spiegelbild auf der verspiegelten Wand einer Mauernische, in der ein Feuerwehrschlauch hing. Erschüttert über den Ausdruck der Angst, der sich messerscharf in ihr Gesicht gegraben hatte, wandte sie sich hastig ab. Ihre Züge wirkten schroff, die Lachfalten wie tiefe Schnitte, der Mund wie eine Narbe, die Augen wie Wunden. Was sie veranlasste, sich abzuwenden, war jedoch nicht der unvorteilhafte Anblick, den sie bot. Etwas anderes. Schlimmeres. Etwas, was sie nicht zu benennen vermochte.
Was geschieht mit mir?
»Auf geht’s«, sagte Susan in noch drängenderem Ton als zuvor. »Martie, was ist los? Auf geht’s! «
Widerwillig führte Martie die Freundin aus dem Vorraum hinaus und bog mit ihr nach links in den Flur ein.
Susan sprach sich mit ihrem Mantra Mut zu – »fast in Sicherheit, fast in Sicherheit« –, aber Martie fand keinen Trost darin.
8. Kapitel
Der Wind fegte die regennassen Blätter von den Bäumen, und in den Rinnsteinen gurgelten wahre Sturzbäche und stauten sich vor verstopften Kanalabflüssen. Dusty lenkte den Wagen die steile Straße nach Newport hinunter.
»Ich bin völlig durchnässt. Mir ist kalt«, jammerte Skeet. »Mir auch. Zum Glück sind wir hoch entwickelte Primaten und verfügen über jede Menge nützlicher Apparaturen.« Damit schaltete Dusty die Heizung ein.
»Ich hab’s vermasselt«, murmelte Skeet.
»Wer, du?«
»Ich schaffe es immer, alles zu vermasseln.«
»Jeder ist zu irgendetwas gut.«
»Bist du sauer auf mich?«
»Im Augenblick habe ich die Nase gestrichen voll von dir«, sagte Dusty wahrheitsgemäß.
»Hasst du mich?«
»Nein.«
Mit einem Seufzer ließ Skeet sich noch tiefer in den Beifahrersitz gleiten. So, wie er schlaff zusammengesackt und mit leicht dampfenden Kleidern da saß, sah er eher wie ein Haufen feuchter Wäsche aus als wie ein Mensch. Die verquollenen, rotgeränderten Lider fielen ihm zu. Der Mund stand offen. Er schien zu schlafen.
Die Wolken hingen grauschwarz wie ein Gemisch aus nasser Asche und verkohltem Holz am Himmel. Der Regen glitzerte nicht silbrig wie sonst, sondern er war dunkel und trübe, als würde eine Putzfrau ihren schmutzigen Lappen auswringen.
Dusty fuhr in östlicher Richtung durch Newport, dann in südlicher Richtung bis nach Irvine. Er hoffte inständig, dass im New Life, einer Rehaklinik für Drogen- und Alkoholsüchtige, ein Bett frei war.
Skeet hatte bereits zwei Entzugsversuche hinter sich, einen davon vor sechs Monaten im New Life. Bei seiner Entlassung war er clean gewesen und ernsthaft entschlossen, es auch zu bleiben.
Aber beide Male war er, sobald er den Entzug beendet hatte, langsam, aber sicher wieder in die alten Geleise geraten.
Bis jetzt war er allerdings noch nie so tief unten gewesen, dass er seinem Leben ein Ende hätte setzen wollen. Vielleicht wurde ihm aus der Sicht dieses neuen Tiefpunkts klar, dass dies seine letzte Chance war.
Ohne den Kopf zu heben, sagte Skeet. »Tut mir Leid … vorhin auf dem Dach. Tut mir Leid, dass ich vergessen hatte, wer dein Vater war. Dr. Dekon. Ich bin einfach fix und fertig.«
»Ist schon gut. Ich habe fast mein ganzes Leben lang versucht, ihn zu vergessen.«
»Ich wette, du erinnerst dich an meinen Vater.«
»Dr. Holden Caulfield. Professor der Literaturwissenschaft.«
»Er ist ein echter Scheißkerl«, sagte Skeet.
»Das sind sie alle. Manche Frauen fliegen eben auf Scheißkerle.«
Skeet hob den Kopf so langsam, als wäre er eine schwere Last, die von einem komplizierten hydraulischen Kransystem in die Höhe gehievt wurde. »Holden Caulfield ist nicht mal sein richtiger Name.«
Dusty bremste vor einer roten Ampel und warf Skeet einen skeptischen Seitenblick zu. Der Name, identisch mit dem des jugendlichen Helden in Salingers Der Fänger im Roggen , schien ihm einfach zu passend, um erfunden zu sein.
»Er hat ihn offiziell ändern lassen, als er einundzwanzig war«, erklärte Skeet. »Sein richtiger Name war Sam Farner.«
»Ist das Kifferlatein oder die Wahrheit?«
»Die Wahrheit«, sagte Skeet. »Sams alter Herr war Berufsoffizier. Colonel Thomas Jackson Farner. Seine Mutter, Luanne, hat in einem Kindergarten gearbeitet. Sam hat sich mit seinen Eltern überworfen – nachdem sie ihm das College
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