Stimmen der Angst
an, als wüsste er nicht, ob sie ihn auf den Arm nehmen wollte. »Haben Sie wirklich keine Veränderung an ihr bemerkt, vor allem in den letzten paar Monaten?«
»Doch, eine gewaltige. Und ich habe den Eindruck … Also, ich bin kein Arzt, kein Therapeut, aber ich finde, es ist schlimmer geworden. Wesentlich schlimmer.«
»Sie haben Recht. Ihr Zustand hat sich verschlechtert. Aber das ist kein schlechtes Zeichen.«
»Ist es nicht?«, fragte Martie verblüfft.
Offensichtlich spürte Dr. Ahriman, wie nah ihr die Sorge um die Freundin ging, und vielleicht ahnte er auch, dass diese Sorge nicht der einzige Grund für ihre innere Unruhe war, denn er führte sie zu einem Stuhl und setzte sich dann neben sie.
»Agoraphobie«, erklärte er, »ist eine Erkrankung, die sich nicht allmählich entwickelt, sondern schlagartig einsetzt. Die Angst wird bei der hundertsten Panikattacke üblicherweise ebenso stark empfunden wie bei der ersten. Wenn sich also die Intensität der Angst verändert, ist das oft ein Zeichen dafür, dass der Patient an der Schwelle eines Durchbruchs steht.«
»Auch wenn die Angst stärker wird?«
»Besonders dann, wenn sie stärker wird.« Dr. Ahriman zögerte kurz, dann fuhr er fort: »Ihnen ist sicher bewusst, dass ich meine ärztliche Schweigepflicht Susan gegenüber brechen würde, wenn ich mit Ihnen über Einzelheiten ihres Falls sprechen würde. Aber im Allgemeinen ist die Angst für einen Agoraphobiker eine Flucht vor der Welt, er benutzt sie, um nicht mit anderen Menschen kommunizieren zu müssen oder um sich nicht mit traumatischen Erlebnissen beschäftigen zu müssen. Die Einsamkeit ist für ihn ein Schutz …«
»Aber Susan hasst diese Angst, das Gefangensein in ihrer Wohnung.«
Er nickte. »Ihre Verzweiflung ist tief und echt. Trotzdem ist ihr Bedürfnis, sich nach außen abzuschotten, stärker als der Kummer über die Grenzen, die ihr durch ihre Phobie gesetzt werden.«
Tatsächlich war Martie schon manchmal der Verdacht gekommen, dass Susan sich nicht nur in ihrer Wohnung verkroch, weil sie Angst vor der Außenwelt hatte, sondern auch, weil sie sich dort am wohlsten fühlte.
»Wenn die Patientin zu begreifen beginnt, warum sie die Einsamkeit braucht«, fuhr Dr. Ahriman fort, »wenn ihr die Erkenntnis dämmert, welches Trauma sie tatsächlich verdrängt, dann kann es passieren, dass sie sich, um es nicht wahrhaben zu müssen, noch verzweifelter an ihre Agoraphobie klammert. Wenn sich die Symptome verstärken, heißt das im Allgemeinen, dass die Patientin die letzten Grabenkämpfe ausficht, um sich der Wahrheit nicht stellen zu müssen. Und wenn dieser Kampf verloren ist, wird sie sich endlich eingestehen, wovor sie sich wirklich fürchtet – nicht vor offenen Räumen, sondern vor etwas, das viel persönlicher und unmittelbarer ist.«
Die Erklärung des Arztes leuchtete Martie ein, aber es fiel ihr schwer, die Vorstellung zu akzeptieren, dass ein noch steilerer Abstieg unweigerlich zur Heilung führen sollte. Als ihr Vater im Jahr zuvor gegen den Krebs gekämpft hatte, hatte am Ende der erbarmungslosen Abwärtsspirale kein frohes Erwachen gewartet, sondern der Tod. Natürlich konnte man eine psychische Erkrankung nicht mit einem physischen Leiden vergleichen, aber dennoch …
»Konnte ich Ihre Sorgen zerstreuen, Mrs. Rhodes?« In seinen Augen blitzte ein Fünkchen Humor auf. »Oder finden Sie, dass ich nur eine Menge Psychogeschwätz von mir gebe?«
Sein Charme war unwiderstehlich. Die vielen Diplome, die eingerahmt an den Wänden seiner Praxis hingen, sein Ruf als renommiertester Spezialist für Angststörungen in Kalifornien, wenn nicht sogar in den gesamten Vereinigten Staaten, sein scharfer Verstand – das alles trug ihm das Vertrauen seiner Patienten nicht minder ein als seine einfühlsame Art, mit Kranken umzugehen.
Martie schüttelte lächelnd den Kopf. »Nein. Die Einzige, die hier Geschwätz von sich gibt, bin ich. Wahrscheinlich … habe ich das Gefühl, sie irgendwie im Stich gelassen zu haben.«
»Nein, nein, nein.« Beschwichtigend legte er ihr die Hand auf die Schulter. »Mrs. Rhodes, ich kann nicht oft genug betonen, wie wichtig Sie für Susans Genesung sind. Was Sie für sie tun, ist mehr als alles, was in meiner Macht steht. Sie können mir alle Ihre Sorgen bedenkenlos anvertrauen. Ihre Sorge um sie ist der Fels, auf den sie bauen kann.«
»Wir sind seit unserer Kindheit befreundet, schon fast ein Leben lang«, sagte Martie mit belegter Stimme. »Ich liebe sie
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