Stimmen der Angst
so sehr. Sie ist wie eine Schwester für mich.«
»Genau das meine ich. Liebe kann mehr ausrichten als eine Therapie, Mrs. Rhodes. Nicht jeder meiner Patienten hat einen Menschen wie Sie zur Seite. In dieser Hinsicht kann Susan sich ungeheuer glücklich schätzen.«
»Sie wirkt so verloren«, sagte Martie leise und mit tränenverschwommenem Blick.
Der Druck seiner Hand auf ihrer Schulter verstärkte sich. »Sie wird ihren Weg finden. Glauben Sie mir.«
Sie glaubte ihm. Mehr noch – seine Worte hatten sie so weit beruhigt, dass sie versucht war, ihm von den rätselhaften Ängsten zu erzählen, die sie selbst an diesem Tag befallen hatten: von ihrem Schatten, dem Spiegel, dem Wiegemesser, der Spitze und der gezackten Kante des Autoschlüssels …
Doch im Sprechzimmer wartete Susan auf ihre Therapiesitzung. Und es ging hier um Susan, nicht um sie.
»Ist noch etwas?«, fragte Dr. Ahriman.
»Nein. Es ist alles in Ordnung«, entgegnete sie und stand auf. »Danke. Vielen Dank, Doktor.«
»Haben Sie Vertrauen, Mrs. Rhodes.«
»Das habe ich.«
Lächelnd gab er ihr mit hochgerecktem Daumen ein Zeichen, verschwand in seinem Sprechzimmer und schloss die Tür hinter sich.
Ein schmaler Gang führte vom Sprechzimmer des Arztes durch einen großen Raum, in dem die Patientenunterlagen aufbewahrt wurden, in ein zweites Wartezimmer, das zwar etwas kleiner war als das erste, diesem aber ansonsten glich.
Hier gab es eine Tür zu Dr. Ahrimans Sprechzimmer und eine zum Flur in der Praxis. Das System der zwei Wartezimmer diente dem Schutz der Privatsphäre, denn so wurde vermieden, dass kommende Patienten und ihre etwaigen Begleiter denen, die gerade gingen, begegneten.
Martie hängte Susans und ihren eigenen Mantel an zwei Wandhaken neben der Tür zum Flur. Sie hatte ein Buch mitgebracht, einen Thriller, aber es gelang ihr nicht, sich auf die Geschichte zu konzentrieren. Keine der unheimlichen Begebenheiten, die in dem Roman beschrieben wurden, war annähernd so beängstigend wie das, was sie am Morgen erlebt hatte.
Nach kurzer Zeit kam Jennifer, Dr. Ahrimans Sprechstundenhilfe, mit einem Becher Kaffee – schwarz, ohne Zucker, wie Martie ihn zu trinken pflegte – und einem Schokoladenbiskuit herein. »Ich habe nicht gefragt, ob Sie lieber etwas Kaltes trinken möchten, weil ich mir gedacht habe, an einem Tag wie diesem ist ein Kaffee genau das Richtige.«
»Wunderbar. Vielen Dank, Jenny.«
Bei ihrem ersten Besuch hatte Martie über diese einfache Geste der Aufmerksamkeit gestaunt; sie war nie zuvor in einer psychiatrischen Praxis gewesen, sich aber einigermaßen sicher gewesen, dass eine derart zuvorkommende Behandlung in diesen Kreisen keine Selbstverständlichkeit war, und es beeindruckte sie immer noch.
Der Kaffee war stark, schmeckte aber nicht bitter. Das Gebäck war ausgezeichnet; sie musste Jennifer fragen, wo sie es gekauft hatte.
Eigenartig, dass ein einziger leckerer Keks genügte, den Geist zu beruhigen und ein beladenes Gemüt aufzuheitern.
Nach einer Weile gelang es ihr, sich doch dem Buch zu widmen. Es war gut geschrieben. Die Handlung war spannend. Die Figuren waren lebendig geschildert. Sie genoss die Lektüre.
Das zweite Wartezimmer war ein angenehmer Ort zum Lesen. Stille. Kein Fenster. Keine lästige Hintergrundmusik. Keine Ablenkung.
In der Geschichte kam ein Arzt vor, der die japanische Dichtkunst des Haiku besonders liebte. Groß, gut aussehend, mit einer einschmeichelnden Stimme gesegnet, rezitierte er, an einem großen Fenster stehend und in den Sturm hinausblikkend, ein Haiku:
»Fichtenwind weht scharf, Regen treibt, Papierfetzen Reden mit sich selbst.«
Das Gedicht gefiel Martie ausnehmend gut. Und in den knappen Zeilen drückte sich auf vollendete Weise die Stimmung des Januarregens aus, der über die Küste fegte. Wunderbar – der Blick auf den Sturm ebenso wie die Worte des Gedichts.
Andererseits beunruhigte sie das Haiku aber auch. Es war unheimlich. Hinter der Schönheit der Bilder lauerte eine geheimnisvolle Bedeutung. Plötzlich ergriff eine seltsame Unruhe Besitz von ihr, das Gefühl, dass nichts so war, wie es zu sein schien.
Was geschieht mit mir?
Irgendwie hatte sie die Orientierung verloren. Sie stand aufrecht im Raum, konnte sich aber nicht erinnern, aufgestanden zu sein. Und was um alles in der Welt hatte sie hier überhaupt verloren?
»Was geschieht mit mir?« Diesmal stellte sie die Frage laut. Dann schloss sie die Augen, um sich zu beruhigen. Sie musste sich
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