Stimmen der Angst
beruhigen. Beruhigen. Vertrauen haben.
Allmählich fand sie ihre Fassung wieder.
Sie beschloss, sich die Zeit mit einem Buch zu vertreiben. Bücher hatten eine therapeutische Wirkung. In ein Buch konnte man sich flüchten, man konnte seine Sorgen und Ängste vergessen.
Dieses spezielle Buch eignete sich besonders gut als Fluchtlektüre. Ein echter Thriller. Es war gut geschrieben. Die Handlung war spannend. Die Figuren waren lebendig geschildert. Sie genoss die Lektüre.
10. Kapitel
Das einzige freie Zimmer im New Life lag im ersten Stock und bot einen Blick auf die gepflegte Parkanlage. Palmen und Farne bogen sich im Wind, die mit Alpenveilchen bepflanzten Beete wogten in blutroten Wellen.
Der Regen prasselte mit solcher Wucht gegen das Fenster, dass er in Dustys Ohren wie Hagel klang, obwohl keine Eisklümpchen an der Scheibe herunterglitschten.
Skeet saß mit immer noch leicht feuchten Kleidern in einem Sessel, der mit blauem Tweed bezogen war, und blätterte geistesabwesend in einer uralten Ausgabe der Time .
Das private Krankenzimmer war wenig anheimelnd. Ein Einzelbett mit gelb-grün kariertem Überwurf. Ein Nachttisch aus hellem Resopal mit imitierter Holzmaserung, ein dazu passender kleiner Garderobenschrank. Schmuddelig weiße Wände, orangebräunliche Vorhänge, gallegrüner Teppichboden. So musste die Hölle aussehen, in der Innenarchitekten schmoren mussten, um für ihre Sünden zu büßen.
Im angrenzenden Badezimmer befand sich eine Duschkabine, die nicht geräumiger als eine Telefonzelle war. In einer Ecke des Spiegels über dem Waschbecken prangte ein roter Aufkleber – SICHERHEITSGLAS: Wenn er zerbrach, würde es keine scharfkantigen Scherben geben, die man benutzen konnte, um sich die Pulsadern aufzuschneiden.
So bescheiden das Zimmer war, es kostete doch eine Menge Geld, denn das Personal im New Life war von wesentlich besserer Qualität als das Mobiliar. Da Skeets Krankenversicherung für den Ich-war-blöd-und-selbstzerstörerisch-undbrauche-jetzt-eine-komplette-Gehirnwäsche-Fall nicht aufkam, hatte Dusty bereits einen Scheck für vier Wochen Aufenthalt und Verpflegung ausgestellt und sich mit seiner Unterschrift verpflichtet, für alle Kosten aufzukommen, die durch die Dienste von Therapeuten, Ärzten, Beratern und Pflegepersonal anfallen würden.
Angesichts der Tatsache, dass es sich mittlerweile um Skeets dritten Entzug handelte – es war sein zweiter im New Life –, drängte sich Dusty der Verdacht auf, dass sein Halbbruder, um auch nur eine schwache Aussicht auf Erfolg zu haben, keine Psychologen, Ärzte und Therapeuten brauchte, sondern einen Zauberer, einen Hexenmeister, einen Wundertäter und einen Wunschbrunnen.
Skeet würde voraussichtlich mindestens drei Wochen im New Life bleiben müssen. Vielleicht auch sechs. Weil er versucht hatte, sich umzubringen, würde mindestens drei Tage lang ein Heer von Schwestern rund um die Uhr um ihn herum sein.
Trotz der bereits abgeschlossenen Verträge und trotz Marties Auftrag für ein neues Herr-der-Ringe -Videospiel würden sie sich in diesem Jahr keinen ausgedehnten Hawaii-Urlaub leisten können. Sie würden sich stattdessen damit begnügen müssen, ein paar Tiki-Fackeln im Garten anzuzünden, Aloha-Hemden anzuziehen, eine Don-Ho-Schnulze bis zum Anschlag aufzudrehen und sich an einem Luau-Dosenschinken zu laben. Auch das konnte Spaß machen. Zusammen mit Martie machte alles Spaß, gleichgültig, ob es sich vor der Kulisse der Waimea Bay oder vor dem gestrichenen Lattenzaun am Rand ihres Blumengartens abspielte.
Dusty setzte sich auf die Bettkante, worauf Skeet die Zeitschrift sinken ließ, in der er geblättert hatte. »Das Blatt geht den Bach runter, seit sie keine Nackten mehr darin zeigen.« Als keine Antwort von Dusty kam, fuhr er fort: »He, das war nur ein Scherz, Bruder, kein Drogengelalle. Ich bin nicht mehr sonderlich high.«
»Du warst witziger, als du’s noch warst.«
»Klar. Aber es ist schwer, in den Trümmern Witze zu reißen, wenn der Höhenflug plötzlich zu Ende ist.« Seine Stimme schwankte wie ein Kreisel, der an Schwung verliert.
Normalerweise hatte es eine beruhigende Wirkung auf ihn, wenn Regen rhythmisch auf ein Dach trommelte. Jetzt empfand er es als deprimierend, als eine eisige Erinnerung an all die Träume und die Jahre, die im Drogennebel den Bach hinuntergegangen waren.
Skeet rieb sich mit blassen, runzligen Fingerspitzen die Lider. »Heute Morgen habe ich meine Augen im Badezimmerspiegel
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