Stimmen der Angst
Psychopharmaka. Kein Tranquilizer, kein Sedativum.
Kein Antidepressivum. Er schluckt seit dem fünften Lebensjahr Pillen, manchmal zwei oder drei Sorten gleichzeitig. Er hatte Schwierigkeiten mit dem Lernen, die man als Verhaltensstörung diagnostiziert hat, gegen die sein Alter ihm dann alle möglichen Pillen verpasst hat. Wenn ein Medikament Nebenwirkungen hatte, gab es wieder Pillen gegen die Nebenwirkungen, und wenn die wiederum Nebenwirkungen hatten, gab es dagegen wieder andere Pillen. Er ist schon als Kind mit Chemie vollgestopft worden.
Das alles hat ihn so aus dem Tritt gebracht, da bin ich mir sicher. Er ist so daran gewöhnt, eine Pille einzuwerfen oder sich eine Spritze zu setzen, dass er sich überhaupt nicht vorstellen kann, wie es ist, einen klaren Kopf zu haben.«
»Dr. Donklin ist derselben Meinung«, sagte sie und zog Skeets Unterlagen aus dem Aktenschrank. »Das Krankenblatt enthält den Vermerk, dass keine Medikamente verabreicht werden dürfen.«
»Sein Metabolismus ist derartig im Eimer, er ist so fertig mit den Nerven, dass man nicht einmal weiß, welche Wirkung ein tausendfach bewährtes Arzneimittel bei ihm hätte.«
»Er bekommt bei uns nicht einmal ein Aspirin.«
Dusty hörte sich selbst reden, und ihm war klar, dass er in seiner Sorge um Skeet ins Schwafeln kam. »Er hat aus purer Gewohnheit Koffeintabletten geschluckt; einmal hat er sich fast damit umgebracht. Bekam eine Koffeinpsychose, hatte die aberwitzigsten Halluzinationen und verfiel in Krämpfe. Jetzt reagiert er hyperempfindlich darauf. Schon eine Tasse Kaffee oder eine Cola könnte eine allergische Schockreaktion bei ihm auslösen.«
»Junger Mann«, sagte die Schwester, »auch das steht hier in den Unterlagen. Glauben Sie mir, wir werden gut auf ihn aufpassen.« Zu Dustys Verwunderung bekreuzigte sich Colleen O’Brien, dann zwinkerte sie ihm zu. »Solange ich Dienst tue, wird Ihrem kleinen Bruder hier nichts passieren.«
Wäre dies wirklich ein Film gewesen und sie die Mutter Oberin darin, man hätte ihr aufs Wort geglaubt und darauf vertraut, dass sie nicht nur für sich selbst, sondern auch im Namen Gottes sprach.
»Danke, Mrs. O’Brien«, sagte er leise. »Ich danke Ihnen vielmals.«
Als er endlich wieder in seinem Lieferwagen saß, schaltete er nicht sofort den Motor ein. Er hätte nicht fahren können, weil er am ganzen Leib zitterte.
Das Zittern war zum Teil eine verspätete Reaktion auf den Sturz vom Dach der Sorensons. Aber er zitterte auch vor Wut.
Wut auf den armen, ausgeflippten Skeet, der eine ständige Belastung für ihn war. Und schließlich zitterte er auch, weil er sich seiner Wut schämte, denn er liebte Skeet und fühlte sich verantwortlich für ihn, war aber außerstande, ihm zu helfen.
Die Machtlosigkeit war das Schlimmste von allem.
Er schlang die Arme um das Lenkrad, legte den Kopf auf die Arme und tat etwas, was er sich in den neunundzwanzig Jahren seines Lebens nur selten gestattet hatte. Er weinte.
11. Kapitel
Nach der Therapiesitzung mit Dr. Ahriman wirkte Susan wie ausgewechselt; sie schien wieder ihr früheres Selbst zu sein. Sie komme um vor Hunger, erklärte sie, während sie in ihren Regenmantel schlüpfte. Ihre Bewertung der drei Chinarestaurants, die Martie vorschlug, war humorvoll und treffend. »Ich habe kein Problem mit Natriumglutamat und einer Überdosis roter Chilischoten im Rindfleisch nach Sichuan-Art, aber Vorschlag Nummer drei muss ich leider ablehnen, weil wir dort höchstwahrscheinlich Kakerlaken als Gratisbeilage bekommen.« Nichts in ihrer Miene oder Körperhaltung ließ vermuten, dass sie in einer schweren, fast lähmenden Phobie gefangen war.
Als Martie die Tür zum Flur vor der Praxis öffnete, sagte Susan: »Du hast dein Buch vergessen.«
Das Taschenbuch lag noch auf dem kleinen Beistelltisch neben dem Stuhl, auf dem Martie gesessen hatte. Sie kehrte noch einmal um, zögerte aber, das Buch in die Hand zu nehmen.
»Was ist los?«, fragte Susan.
»Wie? Ach, nichts. Ich muss wohl mein Lesezeichen verlegt haben.« Martie steckte das Buch in ihre Manteltasche.
Susans heitere Stimmung hielt auf dem Weg durch die Flure des vierzehnten Stockwerks an, aber als sich die Aufzugtür hinter ihnen schloss, begann sich ihr Verhalten zu verändern. Als sie unten ankamen, war ihr Gesicht milchig weiß, und der muntere Ton ihrer Stimme gerann zu einem ängstlichen Tremolo. Sie ließ die Schultern hängen, zog den Kopf ein und duckte sich, als spürte sie schon die
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