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Stimmen der Angst

Stimmen der Angst

Titel: Stimmen der Angst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dean R. Koontz
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hatten und beim ersten Nadelstich geplatzt waren wie Seifenblasen. Selbst Derek war bei all seinem Erfolg eben auch nur ein Spatz, kein Adler, und Claudette wusste das. Dusty war in ihren Augen zu starrsinnig, um sein geistiges Potenzial auszuschöpfen, und Skeet war zu labil. Und Dominique, ihr erstes Kind, lag schon lange friedlich unter der Erde. Dusty hatte seine Halbschwester nicht gekannt, er hatte nur ein einziges Foto von ihr gesehen, vielleicht das einzige, das je von ihr gemacht worden war: ihr süßes, kleines, liebes Gesichtchen. Junior war also die einzige Hoffnung, die Claudette noch hatte, und sie war entschlossen zu glauben, dass sein Herz und sein Wesen so untadelig waren wie sein Gesicht.
    Während sie Skeet noch Schmähungen nachrief, sagte Dusty, ohne recht zu wissen, was ihn dazu bewegte: »Mutter, wie ist Dominique eigentlich gestorben?«
    Die Frage, die in der angespannten Atmosphäre wie eine Drohung im Raum hing, brachte Claudette derart plötzlich zum Schweigen, als wäre abermals ein Schuss gefallen.
    Er sah ihr in die Augen, aber er erstarrte weder zu Stein, wie es ihre Miene zu fordern schien, noch senkte er den Blick, nicht weil er sich nicht geschämt hätte, sondern vielmehr gerade aus Scham. Scham, weil er die Wahrheit gewusst hatte, eine Ahnung zuerst, die sich durch logische Schlussfolgerungen zum Wissen gefestigt hatte, weil er die Wahrheit seit seiner Kindheit kannte und sie vor sich selbst geleugnet und nie ausgesprochen hatte. Scham, weil er es zugelassen hatte, dass Skeet zuerst von dessen aufgeblasenem Vater und danach von Derek Lampton das Leben zur Hölle gemacht worden war, obwohl es vielleicht in seiner, Dustys, Macht gestanden hätte, ihnen mit der Wahrheit über Dominique den Wind aus den Segeln zu nehmen und Skeet damit zu einem glücklicheren Dasein zu verhelfen.
    »Du musst verzweifelt gewesen sein«, sagte Dusty, »dass dein erstes Kind mit dem Down-Syndrom geboren wurde. Solch hohe Erwartungen und dann eine dermaßen traurige Ernüchterung.«
    Es war, als würde der Flur, in dem sie standen, schmaler werden und die Decke sich heruntersenken wie diese zimmergroßen Fallen in billigen alten Abenteuerfilmen, in denen die Opfer langsam bei lebendigem Leib zu Tode gequetscht wurden.
    »Und dann die nächste Tragödie. Krippentod. Plötzlicher Kindstod. Wie schwer muss das zu ertragen gewesen sein … das Getuschel, die Autopsie, das Warten auf die Bekanntgabe der Todesursache.«
    Martie, der plötzlich klar wurde, worauf Dustys Rede zusteuerte, sog hörbar den Atem ein. »Dusty«, sagte sie und meinte damit: Vielleicht solltest du das lieber lassen.
    Leider hatte er nie den Mund aufgemacht, selbst wenn er Skeet damit hätte helfen können, aber jetzt war er fest entschlossen, sie mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln zu zwingen, Junior eine Behandlung zukommen zu lassen, bevor es zu spät war. »Eine meiner frühesten Erinnerungen, Mutter, bezieht sich auf einen Tag, als ich fünf, beinah sechs war … ungefähr zwei Wochen nachdem Skeet aus dem Krankenhaus nach Hause gekommen war. Du warst ein Frühchen, Skeet. Wusstest du das?«
    »Ich glaube schon«, sagte Skeet unsicher.
    »Sie dachten, du kommst nicht durch, aber du hast es geschafft. Und als sie dich nach Hause geholt haben, dachten sie, du hättest einen bleibenden Hirnschaden davongetragen, der sich früher oder später bemerkbar machen würde. Aber auch das hat sich ja als Irrtum erwiesen.«
    »Vielleicht rührte meine Lernschwäche daher«, sagte Skeet.
    »Na ja, mag sein«, sagte Dusty. »Sofern du überhaupt je eine hattest.«
    Claudette sah Dusty an, als hätte sie eine Schlange vor sich: einerseits begierig, ihn zu zertreten, bevor er vorschnellen und zubeißen konnte, andererseits aber wie gelähmt vor Angst, genau das, wovor sie sich fürchtete, erst herbeizuführen.
    »An jenem Tag also, als ich fünf, beinah sechs war«, fuhr Dusty fort, »warst du ziemlich schlecht gelaunt, Mutter. So schlecht gelaunt, dass selbst ein kleines Kind wie ich das Gefühl haben musste, es würde gleich etwas Furchtbares passieren. Du hast eine Fotografie von Dominique hervorgekramt.«
    Als wollte sie wieder zum Schlag ausholen, hob Claudette die Hand, aber sie hielt mitten in der Bewegung inne, ohne ihre Absicht auszuführen.
    In mancher Hinsicht hatte Dusty noch nie etwas getan, was ihm derart schwergefallen war, aber andererseits war es auch wiederum so leicht, dass es ihm geradezu Angst einjagte, leicht in

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