Stimmen der Angst
die Kameraaufnahme aus dem Wartezimmer.
Eine Überraschung, wie er sie in dem Moment empfand, als er sich von der Betrachtung des blauen Beutels losriss und auf dem Bildschirm sah, wie Skeet in das Wartezimmer taumelte, während hinter ihm die Tür zum Korridor langsam ins Schloss fiel, hatte der Arzt seit Jahren nicht mehr erlebt.
Auf Skeets gelbem Pullover zeichnete sich ein großer Blutfleck ab, was nur zu verständlich war, nachdem er aus nächster Nähe vier Schüsse in Brust und Bauch abbekommen hatte. Es konnte derselbe Pullover sein, den er am Vorabend getragen hatte, aber der Kamerablickwinkel war so ungünstig, dass Ahriman nicht erkennen konnte, ob der blutgetränkte Stoff von vier Kugeln durchlöchert war oder nicht. Skeet fuchtelte mit den Armen in der Luft herum, als würde er Halt suchen, schwankte und kippte dann vornüber auf den Boden.
Der Arzt hatte Geschichten von Hunden gehört, die irgendwo weit weg von zu Hause versehentlich von ihren Herrchen getrennt wurden und Hunderte oder gar Tausende von Kilometern durch unwegsames Gelände zurücklegten, durch Regen, Schnee und Hagelschauer, unter sengender Sonne, oft mit blutenden Pfoten und schlimmeren Verletzungen, bis sie zum Staunen und zur tränenreichen Freude ihrer Besitzer Wochen später vor der Tür der Familie standen, bei der sie zu Hause waren. Dass ein Mann mit vier Kugeln im Bauch von einem Strand aufstand, in – er warf einen Blick auf seine Uhr – achtzehn Stunden zehn bis fünfzehn Kilometer durch dicht besiedelte Wohngebiete lief, mit dem Aufzug in den vierzehnten Stock fuhr und in die Praxis des Mannes taumelte, der auf ihn geschossen hatte, um anklagend den Finger gegen ihn zu erheben, hatte er noch nie gehört. Er ging also davon aus, dass hinter dieser überraschenden Wendung der Ereignisse mehr steckte, als auf den ersten Blick sichtbar wurde.
Mit der Maus klickte der Arzt auf das Pistolensymbol des Sicherheitssystems. Der Metalldetektor zeigte an, dass Skeet keine Schusswaffe trug.
Da er auf dem Boden lag, wurde er allerdings nicht von den Röntgenröhren erfasst, weshalb das Gerät auch keine fluoroskopischen Aufnahmen übertragen konnte.
Jennifer kam aus der Rezeption gerannt und beugte sich über den am Boden Liegenden. Sie schien zu schreien – obwohl Ahriman sich nicht sicher war, ob sie schrie, weil der Zustand des verwundeten Mannes sie erschreckte oder weil der Anblick des Bluts ihre empfindsame vegetarische Seele beleidigte.
Der Arzt schaltete das Abhörsystem ein. Ja, sie schrie, allerdings nicht laut; es klang vielmehr wie ein ersticktes Stöhnen, als könnte sie nicht genug Luft bekommen, um in echtes, markerschütterndes Gebrüll auszubrechen.
Während Jennifer bei Skeet niederkniete, um Puls und Atmung zu überprüfen, klickte Ahriman das Nasensymbol an und schaltete damit den Sensor ein, der die Geruchsproben aus dem Wartezimmer analysierte. Jeder halbwegs vernünftige Mensch hätte ihn für verrückt erklärt, wenn er es für möglich hielt, dass dieser Mann mit seinen vier Schusswunden seinen Achtzehnstundenmarsch unterbrochen hatte, um sich Sprengstoff zu besorgen und eine Bombe zu basteln, die er jetzt am Körper trug. Da er sich aber in Erinnerung rief, dass Sorgfalt im Detail wichtig war, wartete der Arzt ab, was das System zu berichten hatte. Nichts: kein Sprengstoff.
Jennifer erhob sich und rannte aus dem Blickfeld der Kamera.
Zweifellos hatte sie die Absicht, die Polizei und einen Krankenwagen zu rufen.
Er drückte auf den Summer der Sprechanlage. »Jennifer?«
»Dr. Ahriman, o Gott, es ist …«
»Ja, ich weiß. Ein Mann ist angeschossen worden. Rufen Sie bitte weder Polizei noch Notarzt, Jennifer. Ich übernehme das. Haben Sie mich verstanden?«
»Aber er blutet stark. Er ist …«
»Beruhigen Sie sich, Jennifer. Rufen Sie niemanden an. Ich kümmere mich darum.«
Es war noch keine Minute vergangen, seitdem Skeet ins Wartezimmer getorkelt war. Der Arzt rechnete damit, dass ihm maximal zwei Minuten blieben, bis Jennifer, besorgt, weil er immer noch keinen Krankenwagen gerufen hatte, handeln würde.
Da war eine Frage, die ihm Sorgen machte und auf die er eine Antwort haben musste: Wenn ein Mann mit vier schweren Schussverletzungen nach achtzehn Stunden auftauchen konnte, warum dann nicht auch zwei?
So lebhaft seine Fantasie war, gelang es dem Arzt doch nicht, sich den verwundeten Skeet und seinen ebenfalls verwundeten Kumpel vorzustellen, wie sie Arm in Arm, um sich gegenseitig zu
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