Stimmen der Angst
Teppichmesser oder eine Schere zur Hand zu nehmen, hätte sie eigentlich ganz beruhigt sein können. Aber der Karton war kein Banksafe; er bestand nur aus Pappe, und weder sie selbst noch irgendjemand sonst war sicher, solange sie genau wusste, wo die Messer zu finden waren, solange auch nur die entfernteste Möglichkeit bestand, dass sie ihrer habhaft werden konnte.
Düstere rote Schwaden der Angst umwogten den Ozean ihrer Seele, ein kalter, strudelnder Nebel stieg aus dem dunkelsten Winkel ihres Innern auf, schlich sich in ihr Bewusstsein, trübte ihre Gedanken, vermehrte ihre Verwirrung, und mit der noch größeren Verwirrung kam ein noch größeres Entsetzen.
Sie trug den Karton auf die hintere Veranda hinaus, in der Absicht, ihn im Garten zu vergraben. Dazu musste sie ein Loch graben. Und das wiederum hieß, dass sie eine Schaufel oder eine Hacke verwenden musste. Aber diese beiden Geräte waren nicht einfach nur Gartenwerkzeuge: Sie waren auch potenzielle Waffen. Unmöglich konnte sie es wagen, mit einer Schaufel oder einer Hacke zu hantieren!
Das Paket fiel ihr aus den Händen. Die Messer klirrten im Innern des Kartons, ein gedämpftes Geräusch zwar, aber darum nicht weniger grausig.
Sie musste die Messer loswerden. Sie wegwerfen. Das war die einzige Lösung.
Am nächsten Tag würde die Müllabfuhr kommen. Wenn sie die Messer in den Müll warf, würden sie am Morgen zur Deponie abtransportiert werden.
Sie hatte keine Ahnung, wo sich die Mülldeponie befand. Nicht die geringste. Eine abgelegene Müllhalde, irgendwo weit draußen im Osten der Stadt. Vielleicht sogar in einem anderen Verwaltungsbezirk. Wenn die Messer dort erst einmal gelandet waren, hatte sie keine Möglichkeit mehr, sie wiederzufinden. Nachdem die Müllabfuhr da gewesen war, würde sie in Sicherheit sein.
Mit hämmerndem Herzen griff sie nach dem verhassten Paket und ging damit die Verandastufen hinunter.
*
Tom Wong maß Skeets Puls und Blutdruck und hörte das Herz ab. Die kalte Membran des Stethoskops auf der bloßen Brust entlockte dem Jungen ebenso wenig eine Reaktion wie der Druck der Manschette an seinem rechten Oberarm. Kein Zucken, kein Blinzeln, kein Schaudern, Seufzen, Murren oder Klagen. Er lag so schlaff und bleich da wie ein weichgekochter Zucchino ohne Schale.
»Als ich gemessen habe, hatte er einen Puls von achtundvierzig«, sagte Dusty, der Tom vom Fußende des Betts aus beobachtete.
»Sechsundvierzig jetzt.«
»Ist das nicht gefährlich?«
»Nicht unbedingt. Nichts deutet auf eine akute Gefährdung hin.«
Seinem Krankenblatt zufolge hatte Skeet, wenn er clean, nüchtern und wach war, einen Puls von durchschnittlich Sechsundsechzig. Zehn, zwölf Schläge weniger, wenn er schlief.
»Bei Schlafenden habe ich schon Pulsfrequenzen bis vierzig hinunter erlebt«, sagte Tom, »obwohl das eher selten ist.« Er schob erst das eine, dann das andere Lid hoch und untersuchte Skeets Augen mit einem Ophthalmoskop. »Die Pupillen sind gleich groß, aber wir können einen Schlaganfall nicht ausschließen.«
»Eine Gehirnblutung?«
»Oder eine Embolie. Selbst wenn es kein Schlaganfall ist, könnte es eine andere Form von Koma sein. Vielleicht verursacht durch einen diabetischen Stoffwechselzusammenbruch oder durch Nierenversagen.«
»Er ist kein Diabetiker.«
»Ich hole lieber den Arzt«, sagte Tom und eilte aus dem Zimmer.
*
Es hatte aufgehört zu regnen, aber von den ovalen Blättern des Lorbeer-Ficus tropfte es herunter wie Kummertränen aus grünen Augen.
Das Paket mit den Messern unter dem Arm, lief Martie zur Ostseite des Hauses, wo sie das Tor zum Abstellplatz für die Mülltonnen aufzerrte.
Ein vernünftiger Teil ihres Bewusstseins, derjenige, der – gefangen in ihrer Angst – ihr Tun beobachtete, sagte ihr, dass ihre Körperhaltung und ihre Bewegungen die einer Marionette waren: Mit steifem Hals, den Kopf vorgereckt, die Schultern krampfhaft hochgezogen, stelzte sie, ganz Ellbogen und Knie, mit hektischruckartigen Schritten vorwärts.
Wenn sie eine Marionette war, dann hieß der Puppenspieler Johnny Panic. Unter ihren Kommilitonen hatte es einige glühende Verehrer der Werke von Sylvia Plath gegeben, und obwohl Martie für ihren Teil die Gedichte Plaths wenig reizvoll fand, weil sie ihr zu lebensverneinend und schwermütig erschienen, war ihr ein gequälter Aufschrei der Dichterin in Erinnerung geblieben – eine überzeugende Antwort auf die Frage, warum manche Menschen brutal miteinander umgingen und so
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