Stimmen der Angst
versetzt.
Eine Zeitlang hatte sie geglaubt, man setze sie unter Drogen. Der Gedanke nagte immer noch an ihr, schien ihr inzwischen aber doch sehr weit hergeholt zu sein.
Rohypnol – in den Medien schon lange als Vergewaltigungsdroge in Verruf – hätte vielleicht erklären können, wie es möglich war, dass sie unsanften Geschlechtsverkehr hatte, ohne davon aufzuwachen, ohne es, auch nur zu merken. Wenn man Rohypnol in ein alkoholisches Getränk mischte, hatte das dieselbe Wirkung wie ein Vollrausch: Das Opfer verliert die Orientierung, wird völlig hilf- und wehrlos. Schließlich geht der Rauschzustand in tiefen Schlaf über, und wenn das Opfer aufwacht, hat es keine oder nur wenig Erinnerung daran, was in den Stunden zuvor passiert ist.
Susan hatte jedoch am Morgen nach den mysteriösen Besuchen niemals die Symptome eines Rohypnol-Katers an sich beobachtet. Kein flaues Gefühl im Magen, kein trockener Mund, keine Sehstörungen, keine pochenden Kopfschmerzen, keine Anzeichen von Orientierungslosigkeit. Sie war im Gegenteil wie üblich mit klarem Kopf und erfrischt aufgewacht, nur eben in dem Bewusstsein, missbraucht worden zu sein.
Dennoch hatte sie schon mehrere Male den Lebensmittelhändler gewechselt. Manchmal ließ Susan sich das, was sie brauchte, von Martie mitbringen, aber meistens kaufte sie bei kleineren Familienunternehmen, die die bestellten Waren nach Hause lieferten. Es gab nur noch wenige Geschäfte, die diesen Service anboten, für den immerhin eine zusätzliche Liefergebühr erhoben wurde. Obwohl Susan in ihrer panischen Angst, jemand könnte ihr mit den Lebensmitteln Drogen ins Haus schmuggeln, alle Lieferanten schon durchprobiert hatte, half ihr der ständige Wechsel nicht, das Problem der nächtlichen Übergriffe zu lösen.
In ihrer Verzweiflung hatte sie die Erklärung im Paranormalen gesucht. Die Fahrbibliothek hatte sie mit reißerischer Lektüre über Geister, Vampire, Dämonen, Exorzismus, schwarze Magie und Entführungen durch Außerirdische versorgt.
Der Bibliothekar, der die Bücher brachte, hatte – was ihm hoch anzurechnen war – nie eine abfällige Bemerkung gemacht oder auch nur das Gesicht über ihre erstaunliche Vorliebe für dieses absonderliche Thema verzogen. Wahrscheinlich fand er diese Lektüre immer noch gedeihlicher als die Beschäftigung mit Politik und Prominententratsch.
Ganz besonders hatten Susan die Geschichten über den Inkubus fasziniert, diesen bösen Geist, der Frauen im Schlaf heimsuchte und ihnen beischlief, während sie träumten.
Aus ihrer Faszination war jedoch nie Überzeugung geworden. Der Aberglaube hatte sie nie so sehr in seinen Bann gezogen, dass sie mit einer Knoblauchkette um den Hals geschlafen oder Bibeln an den vier Ecken ihres Bettes deponiert hätte.
Schließlich hatte sie aufgehört, sich mit paranormalen Phänomenen zu beschäftigen, weil sie feststellte, dass es ihre Agoraphobie noch verstärkte. Jedes Mal, wenn sie im Irrationalen schwelgte, schien das ein gefundenes Fressen für den kranken Teil ihrer Psyche zu sein, der ihre unerklärlichen Ängste nährte.
Ihr Weinglas war halb leer. Sie schenkte sich nach.
Mit dem Glas Merlot in der Hand machte sie einen Rundgang durch die Wohnung, um sich zu vergewissern, dass alle möglichen Zugangswege sicher versperrt waren.
Die beiden Fenster im Esszimmer gingen auf das Nachbargebäude hinaus, das fast bis an Susans Haus heranreichte. Sie waren beide verriegelt.
Im Wohnzimmer schaltete sie die Lichter aus, setzte sich in einen Sessel und nippte an ihrem Merlot, bis sich ihre Augen an das Dunkel gewöhnt hatten.
Obwohl ihre Phobie so weit gediehen war, dass sie bei Tageslicht den Anblick der Außenwelt nicht einmal mehr durchs Fenster ertragen konnte, gelang es ihr immer noch, in die Nacht hinauszuschauen, wenn der Himmel bewölkt war und ihre Gedanken nicht in ein tiefes Sternenmeer eintauchten. Wenn die Wetterverhältnisse so waren wie heute, versäumte sie es nie, sich auf die Probe zu stellen, weil sie das Gefühl hatte, ihren unterentwickelten Mut trainieren zu müssen, damit er nicht ganz verkümmerte.
Als sie in der Dunkelheit besser sehen konnte und der kleine Antriebsmotor in ihrem Herzen mit dem Merlot ein wenig Kraftstoff getankt hatte, trat sie an das mittlere der drei großen Fenster mit Blick auf das Meer. Sie zögerte kurz, dann atmete sie tief durch und zog die Jalousie hoch.
Die gepflasterte Uferpromenade vor dem Haus sah im Schein der weit auseinander stehenden
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