Stimmen der Angst
Straßenlaternen aus, als wäre sie mit Reif überzogen. Obwohl es noch nicht spät war, lag die Promenade fast völlig verlassen in der Januarkälte da. Ein junges Pärchen sauste auf Inlinern vorbei. Eine Katze huschte von einem Schattenfeld zum nächsten.
Nebel wand sich in dünnen Tentakeln um die Straßenlaternen und die wenigen Palmen, deren Wedel in der Windstille bewegungslos herunterhingen, sodass es aussah, als wäre der Nebel lebendig und würde lautlos drohend vorwärts kriechen.
Vom nächtlich verhangenen Strand war nicht viel zu erkennen. Den Pazifik konnte Susan überhaupt nicht sehen: Eine dichte Nebelfront hatte sich bis an die Uferlinie herangeschoben, wo sie sich nur hin und wieder den Blicken darbot – grau aufgetürmt wie eine mächtige Tsunami-Welle, die in der Hundertstelsekunde, bevor sie donnernd über die Küste hereinbrach, plötzlich zu Eis erstarrt war. Träge Dunstschleier lösten sich von der Nebelbank wie der Kältedampf, der von einem Trockeneisblock aufsteigt.
Jetzt, da sich die Sterne über den tief hängenden Wolken verloren, da Dunkelheit und Nebel die Welt in kleine, überschaubare Räume aufteilten, hätte Susan, abgeschottet von ihren Ängsten, stundenlang am Fenster stehen können. Aber plötzlich begann ihr Herz zu rasen. Ihre Agoraphobie trug keine Schuld daran; vielmehr hatte sie das ungute Gefühl, beobachtet zu werden.
Seit die nächtlichen Übergriffe angefangen hatten, wurde sie zunehmend von dieser neuen Angst verfolgt. Skopophobie: die zwanghafte Angst, den Blicken anderer ausgesetzt zu sein.
Ihr momentanes Empfinden war jedoch nicht einfach eine weitere Phobie, sondern eine durchaus rationale Angst. Denn wenn ihr Phantomvergewaltiger tatsächlich existierte, musste er von Zeit zu Zeit ihr Haus beobachten, um sicherzugehen, dass er sie bei seinen Besuchen allein antraf.
Dennoch fürchtete sie sich davor, dass immer neue Panikschichten sich über ihre Agoraphobie legen könnten, bis sie darin wie eine ägyptische Mumie eingehüllt war, gefangen in den erstickenden Banden der Angst, gelähmt und lebendig einbalsamiert.
Die Promenade war menschenleer. Die Stämme der Palmen waren nicht so dick, dass sich ein Mensch dahinter hätte verstecken können.
Er ist irgendwo da draußen.
Der unbekannte Eindringling hatte sich drei Nächte hintereinander nicht mehr bemerkbar gemacht. Der Besuch dieses Inkubus in Menschengestalt war überfällig. Sein Begehren schien einem Muster zu gehorchen, das sich in kürzeren Abständen – aber nicht weniger verlässlich – wiederholte als der Ruf des Mondes in den Blutwallungen eines Werwolfs.
Susan hatte schon oft versucht, sich in den Nächten, in denen sie mit seinem Besuch rechnete, wach zu halten. Wenn es ihr gelang und sie, erschöpft und mit brennenden Augen, bis zum Morgengrauen durchhielt, tauchte er nicht auf. Wenn sie dagegen die Willenskraft nicht aufbrachte und einnickte, kam er gewöhnlich. Einmal war sie vollständig angekleidet im Sessel eingeschlafen und in ihren Kleidern wieder aufgewacht, allerdings im Bett, umgeben von einem schwachen Hauch seines Schweißgeruchs, Spuren seines widerwärtigen, klebrigen Spermas in ihrem Slip. Er schien einen sechsten Sinn dafür zu haben, wann sie schlief und am wehrlosesten war.
Er ist irgendwo da draußen.
Am Rand ihres Gesichtsfelds war der sonst flache Strand von ein paar niedrigen Dünen durchzogen, die sich in weichem Bogen in Dunkelheit und Nebel verloren. Dort konnte sich ein Beobachter versteckt halten, hätte sich dazu aber längelang in den Sand legen müssen.
Sie spürte seinen Blick. Oder glaubte ihn zu spüren.
Hastig ließ Susan die Jalousie herunter.
Wütend über ihre beschämende Zaghaftigkeit, bebend eher vor Zorn als vor Angst, zutiefst frustriert darüber, dass sie sich so hilflos fühlte, nachdem sie ein Leben lang alles andere als ein armes Opfer gewesen war, wünschte sie sich mit jeder Faser ihres Seins, ihre Agoraphobie überwinden und hinausgehen zu können, über den Strand zu stürmen, entschlossen durch den Sand zu jeder einzelnen Düne zu stapfen und entweder ihren Peiniger zur Rede zu stellen oder sich selbst zu beweisen, dass dort draußen niemand war. Aber sie brachte den Mut nicht auf, den lauernden Jäger zu jagen, sie war zu nichts anderem fähig, als in ihrem Versteck zu bleiben und zu warten.
Sie konnte nicht einmal mehr auf Erlösung hoffen, denn die Hoffnung, die ihr lange Halt gegeben hatte, war in letzter Zeit so verschwindend
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