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Stimmen in der Nacht - Brodie, L: Stimmen in der Nacht

Stimmen in der Nacht - Brodie, L: Stimmen in der Nacht

Titel: Stimmen in der Nacht - Brodie, L: Stimmen in der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Brodie
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sie ihr ganzes Lunchpaket an Kate weiter.
    »Nervös wegen der Klausur?«, fragte Kate, aber Maggie schüttelte den Kopf.
    »Nicht wegen der Klausur, wegen der Lehrerin.« Sie erzählte Kate nicht von ihrem Traum   – dass sie bereits eine Stunde allein mit Mrs Murdock im Wald verbracht hatte und dass die Lehrerin an einen Baum gelehnt dasaß, die Knie an die Brust gezogen und die Stirn daraufgelegt. Maggies schlafendes Hirn hatte Mrs Murdock zu einem Abbild ihrer selbst gemacht.
    Als es um drei Uhr klingelte, drängten die Schüler durch die Korridore aus dem Schulgebäude hinaus, mit ihnen Kate, auf dem Weg zu ihrer wöchentlichen Chorprobe. Maggie stand mit grimmiger Entschlossenheit von ihrem Tisch auf und gestand sich noch eine kurze Pause an ihrem Spind zu, wo sie einen Schluck Wasser trank und ein paarmal tief Luft holte, bevor sie zum Klassenzimmer der Mathelehrerin ging.
    »Deine Aufgaben liegen dort.« Mrs Murdock zeigte auf einen Tisch in der hinteren Ecke, weit weg von ihrem eigenen Schreibtisch. Wollte auch Mrs Murdock jeden engeren Kontakt vermeiden? War es ihr ganz recht, dass Maggie in der letzten Reihe saß?
    »Keine Bücher auf dem Tisch«, sagte die Lehrerin. »Du hast eine Stunde Zeit.«
    Konzentrier dich auf den Stoff,
dachte Maggie, als sie ihren Rucksack auf den Boden stellte.
Sieh die Lehrerin nicht an und denk verdammt noch mal nicht an deine Träume. Konzentrier dich einfach auf die Aufgaben.
    Die Problemstellungen erschienen ihr recht einfach, und doch geisterten so viele Bildfetzen durch ihre Gedanken, dass sie die Aufgaben kaum richtig lesen konnte. Die roten und goldenen Streifen, die an den Wänden des Klassenzimmers verliefen, glichen horizontalen Flammen, die ganze Schule schien eine einzige feurige Todesfalle mit ihren hohen, schmalen Fenstern, die sich nicht öffnen ließen, und mit ihrem Labyrinth an Korridoren, die nie zu einem Ausgang führten. Maggie brauchte einen Fluchtweg, eine Chance, hinauszuklettern und wegzurennen vor den Dreien auf ihrem Papier, die jetzt zu Achten wurden, vor den Vieren, die sich zu Neunen formten, während die Nullen ihre großen schwarzen Mäuler öffneten.
Ich halte das nicht aus,
dachte sie.
Ich kann hier nicht bleiben.
    Doch dann tat Mrs Murdock etwas Seltsames. Sie stand von ihrem Schreibtisch auf, ordnete die Papiere in ihrer Hand und verkündete: »Ich gehe in die Bibliothek. Leg die Klausur einfach auf meinen Tisch, wenn du fertig bist.« Sie nahm ihre Handtasche und ihren Ordner mit und verließ das Zimmer, ohne Maggie noch einmal anzusehen.
    Ihr Abgang kam so überraschend, dass Maggie einen Moment brauchte, um damit klarzukommen. Hatte Mrs Murdock die Spannung im Raum auch gespürt? Ließ Maggies Nähe der Frau die Haare zu Berge stehen?
    Maggie hatte noch nie eine Klausur geschrieben, ohne dass ein Lehrer anwesend gewesen wäre. Jetzt gab es nichts mehr, was sie vom Schummeln abhalten könnte, außer ihrem Gewissen. Mrs Murdock vertraute ihr wohl, dachte sie, oder aber sie stellte sie in mehr als einer Hinsicht auf die Probe. Maggie sah zur offenen Tür hin, halb in der Erwartung, ihre Lehrerin dort stehen zu sehen, die überprüfte, ob Maggie auch ehrlich war. Aber dort war niemand. Sie war allein,nur das elektrische Summen der Neonröhren hätte sie noch ablenken können. Nach einer Weile spürte sie, wie ihr Herzschlag langsamer wurde und ihre Atmung sich beruhigte. Die seltsame Frau war weg; die Matheaufgaben waren einfach; sie musste sich keine Sorgen machen.
    Nach einer halben Stunde war sie mit den Aufgaben fertig, und sie legte die Klausur auf Mrs Murdocks Schreibtisch. Einen Augenblick lang blieb sie stehen und betrachtete das Bild mit dem Mädchen auf der Schaukel, in dessen schmalem, unscheinbarem Gesicht ein verhaltener Ausdruck stand, so als ob es um Erlaubnis bäte zu lächeln. Dann kehrte Maggie an ihren Tisch zurück, schwang den Rucksack über die Schulter und lief hinaus auf den Korridor. Sie wollte noch zur Toilette zwei Türen weiter gehen, bevor sie ihren Dad anrief, um ihm zu sagen, dass der Mathe-Club schon früher als geplant zu Ende sei. Sie hatte den metallenen Türgriff der Toilette fast schon in der Hand, da öffnete sich die Tür und Mrs Murdock kam heraus. Sie rannte beinahe in Maggie hinein und hatte keine Zeit mehr, den Blick zu senken. Stattdessen sah sie Maggie direkt in die Augen. »Tut mir leid«, sagte sie. Einen kurzen Augenblick lang starrten die beiden einander an, dann trat die Lehrerin zur Seite

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