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Stimmen in der Nacht - Brodie, L: Stimmen in der Nacht

Stimmen in der Nacht - Brodie, L: Stimmen in der Nacht

Titel: Stimmen in der Nacht - Brodie, L: Stimmen in der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Brodie
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und ging davon, nicht zu ihrem Klassenzimmer, sondern den Korridor hinunter, bis sie im Treppenhaus verschwand.
    Maggie rührte sich nicht. Mit angehaltenem Atem stand sie vor der geschlossenen Tür und dachte nur:
Oh mein Gott.
Als sie schließlich in die Toilette hineingegangen war, glitt ihr der Rucksack von der Schulter, und sie beugte sich vor, als hätte ihr jemand in den Magen getreten. »Oh mein Gott.«
    Nach einigen Augenblicken richtete sie sich wieder auf, zog zwei Papierhandtücher aus dem Metallbehälter und ließ kaltes Wasser darüberlaufen. Die Feuchtigkeit auf Stirn, Augenlidern und Lippen tat gut, Maggie drückte sich die Tücher fest aufs Gesicht. Schließlich warf sie sie weg und betrachtete ihr tropfnasses Bild im Spiegel.
    Was jetzt?,
dachte sie.
Was soll ich jetzt tun?
Sie zog ihr Handy aus der Hosentasche und rief ihren Dad an.
    »Ich brauche dich jetzt schon, okay? Kannst du sofort kommen?« Zum ersten Mal war Maggie regelrecht froh, einen Fahrer auf Abruf zu haben.
    »Was ist los?« Er klang erschrocken.
    »Mir ist übel, und ich muss unbedingt nach Hause.«
    Als sie die Toilette verließ, sah Maggie sich nach rechts und nach links um, vergewisserte sich, dass Mrs Murdock nirgends zu sehen war. Im Korridor zögerte sie kurz. Sie wusste, dass das Treppenhaus, das ihre Lehrerin benutzt hatte, der kürzeste Weg zum Haupteingang war. Doch sie beschloss, den hinteren Ausgang zu nehmen, der am Probenraum vorbei zu den Schulbussen führte. Sie wollte schon in diese Richtung davoneilen, als sie noch einmal einen kurzen Augenblick innehielt und die Lippen aufeinanderpresste. So schnell sie konnte, lief sie in Mrs Murdocks Klassenzimmer zurück und ging zum Schreibtisch der Lehrerin, auf dem noch immer ihre Klausur lag. Hastig nahm sie ihren Rucksack ab, machte ihn auf, zog einen Spiralblock heraus und schrieb einen einzigen Satz darauf. Dann riss sie das linierte Blatt Papier ab, ließ die zerfetzte Lochperforierung am Rand stehen und legte es auf ihre Klausur. Sie hatte den Reißverschluss ihres Rucksacks kaum wieder zugezogen, da rannte sie auch schon aus dem Klassenzimmer hinaus und den Korridor entlang.
    Zwanzig Minuten später kehrte Mrs Murdock in ihr Zimmer zurück, nahm das Blatt Papier von ihrem Schreibtisch und las fünf karge Worte:
    Ich weiß, wer Sie sind.

KOMPLIZIN

6
    Grace Murdock faltete Maggies Zettel zusammen und steckte ihn in das Seitenfach ihrer Handtasche. Jetzt waren die Dinge in Bewegung geraten, nach Monaten der Anspannung. Der Kurs, den sie mit ihrer Rückkehr nach Jackson eingeschlagen hatte, war nun unumkehrbar, es gab kein Zurück mehr.
    Es überraschte sie vor allem, dass das Mädchen sie nicht schon früher erkannt hatte. Grace hatte gedacht, dass Maggie sie gleich am ersten Schultag bloßstellen würde. Wenn sie in den unruhigen Augustnächten wach gelegen hatte in der schwülen Hitze, die der Fensterventilator über ihren Körper blies, hatte sie sich die Szene immer wieder vorgestellt   – wie Maggie das Klassenzimmer betreten und erstarren würde. Das Mädchen würde sie anstarren und auf sie zeigen, vielleicht auch schreien oder fluchen, und Grace würde es hinnehmen, mit gesenktem Blick, und sich von Maggie beschuldigen und beschimpfen lassen. Sie würde das Mädchen allen erzählen lassen, wer sie war und was sie war. Die Komplizin. Die Lügnerin.
    Sie hatte gedacht, dass die öffentliche Schande auch ihr Gutes haben könnte. Aus einer solchen Demütigung würde ihre Seele vielleicht am Ende gereinigt hervorgehen. Nicht, dass Grace sich danach sehnte; sie hatte keine masochistische Freude empfunden bei den Bildern, die sie sich in jenen schlaflosen Augustnächten ausmalte. De facto hatte sie den Job an der Jackson Highschool angetreten, weil sie annahm, dass Maggie Greene nicht auf diese Schule ging. Vor neuneinhalbJahren hatte Maggies Familie draußen am Wade’s Creek gewohnt, acht Meilen außerhalb der Stadt, was bedeutete, dass die Mount Wilson Highschool für das Mädchen zuständig war. Hätte Grace gewusst, dass Maggie und ihr Vater in die Stadt gezogen waren, hätte sie diese Stelle wahrscheinlich nicht angenommen   – auch wenn sie sich innerlich gedrängt fühlte, an den Ort ihres Verbrechens zurückzukehren, in die Stadt, in der sie das College besucht hatte, zu dem Campus mit den zwei Millionen Backsteinen und den hundert weißen Säulen, zu den Landstraßen, die sich durch eine gebirgige Flusslandschaft und Wiesen schlängelten. Sie hatte nie

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