Stimmen in der Nacht - Brodie, L: Stimmen in der Nacht
Maggie Greenes Mathematiklehrerin werden, sie jeden Tag sehen, Autorität über sie ausüben wollen. Es erschien ihr jedes Mal wieder geradezu grotesk, wenn sie eine Note unter Maggies Arbeiten schrieb, und vor allem dann, wenn diese Note irgendetwas anderes war als ein A für Abbitte.
Grace hatte sich die ideale Begegnung mit Maggie Greene als eine einmalige Angelegenheit vorgestellt, als Gespräch in einem leeren Restaurant oder auf einer einsamen Parkbank – an irgendeinem Ort, der als eine Art moderner Beichtstuhl herhalten konnte. Als sie im Juli Maggies Namen auf der Liste ihrer Klasse gesehen hatte, war Grace versucht gewesen, ihre neue Stelle gleich wieder aufzugeben. »Das war’s«, hatte sie zu sich selbst gesagt. »Die Scharade ist vorbei.«
Sie hatte überlegt, eine plötzliche Krankheit vorzutäuschen, zu behaupten, dass der harte Klumpen der Schuld, der in ihrer Brust wuchs, ein Tumor sei, ein realer und bösartiger, denn genauso fühlte er sich an, handfest und tödlich. Doch dann hatte sie es sein lassen, und als Maggie sie nicht gleich am ersten Tag erkannt hatte, hatte Grace geglaubt, dass ihr eine Galgenfrist gewährt worden sei, eine kurze Zeit, um ihre Gedanken zu sammeln.
Es war verständlich, dass Maggie nicht sofort wusste, wer sie war. Grace hatte sich ziemlich verändert seit ihren College-Tagen und die üblichen Jeans und Flip-Flops gegenein Sortiment von Röcken und Blusen eingetauscht, die alle cremefarben, weiß oder grau waren und »in jeder Hinsicht akzeptabel« – genau das war die Formulierung gewesen, die ihr durch den Kopf schoss, als sie die Sachen bei Target kaufte. Und auch ihr glattes sandfarbenes Haar trug sie nicht mehr bis auf den Rücken hinabfallend, was sie als Studentin ausgewiesen hatte. Vor ein paar Jahren hatte sie es auf Schulterlänge abschneiden lassen, schon um sich einen seriösen Anstrich zu geben. Aber das Kürzen des Haars war auch das einzige Ritual des Erwachsenwerdens, das Grace wirklich kontrollieren konnte.
Die Ehe war ein weiteres Ritual gewesen, das ihrem Leben mehr Reife hatte verleihen sollen. Doch im Laufe der Jahre hatte sich die Beziehung zwischen ihr und ihrem Mann zu einem unbeholfenen Schlagabtausch von Vorwürfen und Gegenvorwürfen entwickelt und Grace mit einem Ehenamen zurückgelassen, den sie nicht mit sich selbst in Verbindung brachte, auch wenn sie ihn behielt, weil sicher niemand eine Mrs Murdock in Jackson wiedererkennen würde. Zusammen mit ihren Kleidern, ihrer Frisur und ihrem Namen hatte sich auch ihre Seele verändert, jedenfalls hoffte sie das. Als sie Maggies hingekritzelte Behauptung las –
Ich weiß, wer Sie sind
–, hätte Grace ihr am liebsten auf einem eigenen Notizzettel geantwortet:
Du kennst das Äußere eines unreifen Menschen von vor neun Jahren – mich kennst Du nicht.
Während sie die Klausur an sich nahm, ihre Bücher und Stifte einsammelte und den Computer herunterfuhr, fragte Grace sich, wie sie ihre Situation einem fünfzehnjährigen Mädchen vermitteln sollte. Mehr als alles andere schuldete sie Maggie Erklärungen, die ganze Geschichte, warum sie jetzt hier war, und vor allem, warum sie vor neun Jahren im Haus des Mädchens gewesen war. Aber Erklärungen waren kompliziert, jeder Augenblick im Leben war bedingt durch alles Vorangegangene. Wenn Maggie die Kette von Ereignissen verstehen sollte, die sie beide verband, müsste sieetwas über Graces Vergangenheit und Gegenwart erfahren, über ihre Familie und Freunde, über das ganze Netz von Beziehungen, das die Schnittpunkte im Leben der Menschen bildet.
Vor allem müsste Maggie von Lily erfahren, Graces vier Jahre alter Tochter. Lily war der Hauptgrund, der Grace nach Jackson zurückgebracht hatte, die Schwerkraft, die Tag für Tag die Lebensbahn ihrer Mutter bestimmte. Grace erinnerte sich noch ganz genau an den Augenblick, als die Hebamme ihr das ungewaschene Neugeborene auf den Bauch gelegt hatte. Sie hatte erwartet, dass ein Neugeborenes ein zappliges, schwaches Etwas sei. Doch Lily hatte entschlossen den Kopf gehoben und ihrer Mutter mit einer solchen Intensität im dunklen kindlichen Blick in die Augen gesehen, dass Grace in diesem Moment die Schrecken des Verlustes kennengelernt hatte. Das hier war der heiligste Schützling ihres Lebens – ein so kostbarer Mensch, so bereit, die Liebe seiner Mutter mit warmem, zärtlichem Gefühl anzunehmen und zu erwidern, dass Grace von dem Wunder des Lebens und der Angst vor dem Tod
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